vonLeisz Shernhart 01.11.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Lambrecht war Bibliothekar. Eines Tages, als er den Code für die Zufahrt zur Tiefgarage der Landesbbibliothek eingeben wollte, um seinen Wagen zu parken, fiel dieser ihm nicht mehr ein. Eine eher ungewöhnliche Begebenheit, denn Lambrecht erinnerte sich sonst immer. Er setzte also zurück und parkte neben der Universität, am Bratisplatz, doch dachte er nicht an die Parkscheibe. So bekam er einen gehörigen Strafzettel, den er jedoch zu bezahlen vergaß. Am nächsten Tag bemerkte Lambrecht bei der Arbeit, dass ihm der Daumennagel der rechten Hand abhandengekommen war. Merkwürdig. Am Morgen war er noch da gewesen. Oder nicht? Er konnte sich nicht erinnern. Zwei Tage später fehlten sein linker Arm sowie zwei Zehen des rechten Fußes. Auch von seinem linken Zeigefinger vermisste er nunmehr das vorderste Glied. Er wunderte sich zwar, doch angesichts der Tatsache, dass scheinbar niemand, dem er auf seinen alltäglichen Trampelpfaden zu begegnen pflegte, Notiz davon zu nehmen schien, beschloss er, den Zwischenfällen keine weitere Bedeutung beizumessen und fuhr ganz einfach fort. Im Übrigen war er sich mit einem Male nicht mehr sicher, ob das Wort „Zwischenfall“ im Zusammenhang mit den Ereignissen überhaupt der treffende Begriff war, doch es fiel ihm nichts anderes mehr ein. Nach zwei weiteren Tagen war auch dieses Zeichen aus seinem Wortschatz verschwunden. Ebenso fehlten ihm nun im Ganzen beide Beine, weite Teile des Unterleibs sowie der Großteil des Oberkiefers samt Lippen. Für einen kurzen Moment ärgerte er sich etwas und er fragte sich ernsthaft, wie es ihm wohl gelungen war, unter derlei Umständen in die Arbeitsstelle zu gelangen, doch, da sich sonst niemand darüber empörte, vergaß auch Lambrecht es recht schnell und dachte nicht mehr daran. Am Ende der nächsten Woche, inzwischen waren nur noch die Augenbrauen, die Stirn bis zum Haaransatz sowie das linke Ohrläppchen übrig, verschwendete Lambrecht keinen Gedanken mehr an sich. Auch sonst schien sich niemand an seiner Zersetzung zu stören und so hörte Lambrecht am Morgen des ersten Samstags im Monat Juli des Jahres 2023 endgültig auf zu existieren. Da er jedoch weiter zur Arbeit zu gehen schien, vermisste man ihn sonst nicht.

 

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