vonLeisz Shernhart 23.11.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Ich habe ein recht interessantes Prosafragment aus Jushis Frühwerk übersetzt, wobei ich mir erlaubt habe der namenlosen Skizze (im Prinzip eine Art literarische Fingerübung) den Titel „Elend“ zu geben. Der Text muss wohl aus Iljushans Studienzeit in Mariupol stammen und entstand mutmaßlich um das Jahr 2009. Ich gehe davon aus, dass dem Verfassen des Textes die Lektüre von Hamsuns Roman „Hunger“ vorausging. Ich weiß, dass Jushi Hamsuns Werk verehrte, wohingegen er den Autor selbst aufgrund dessen fragwürdiger politischer Gesinnung missachtete. Die Nähe des Fragments zum Roman liegt auf der Hand. Zudem musste ich sofort an Jean Valjean aus Victor Hugos “Misérables” denken, der wegen des Diebstahls eines Brotes zu 19 Jahren Galeerenhaft verurteilt wurde. Dies war einer von Jushis fünf Lieblingsromanen. Außerdem war Iljushan glühender Kafka-Verehrer und einer seiner Lieblingstexte war Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Es ist überdies nicht auszuschließen, dass Jushi während seiner Studienzeit tatsächlich bisweilen zu hungern hatte. Der Text liest sich, als wisse der Künstler, wovon er rede. Künstlertum und Prekariat schlendern leider allzu oft Hand in Hand am Abgrund entlang. Die Kunst geht nach Brot

 

Es ist für mich nicht weiter schlimm, hungrig zu sein. Der Hunger ist ein vertrauter Zustand, ein buckliger alter Freund, ein treuer Zellengenosse, nicht weniger als ein Bruder im Geist. Ich vertraue diesem Verwandten bedingungslos, ohne jeglichen Vorbehalt, bereits seit den Tagen gemeinsamer Haft. Wir hatten uns lange nicht gesehen, doch gestern Nacht traf ich ihn wieder und ich habe ihn fest umarmt. Gemeinsam schnitzten wir aus verkrusteten Pinseln Spieße. Mit diesen durchbohrten wir Asseln, um sie über der Glut des rostroten Kanisters zu rösten. Gierig verschlang jeder von uns seinen bangen belanglosen Teil. Komparse dieser kargen Ration war der Schluck Wasser einer schmutzig verseuchten Pfütze, in der sich das Fenster zum Hof abmalt. So wohltuend diese Mahlzeit auch war, so fad war der Eindruck, den sie uns beiden erzwang. Warum geben sie uns nicht mehr? Wieso nehmen wir uns so wenig? Steht uns denn nicht mehr zu? Wenn der Zeiger sich neigt, ist es wieder soweit: Der Hunger und ich, wir durchstreifen die Zeit. Im Schutze der Einsamkeit bleibt uns die Nacht und wir schleichen am Fenster des Gastraums vorbei.

 

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