vonLeisz Shernhart 03.12.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Überquert man die hinterste Gasse des letzten Weges, gelangt man an einen kleinen Bereich, dessen beste Tage seit unlängst verdrängt sind. Hinter der morschen Schaukel bietet der üppig bedachte Haselnussstrauch, der das Wohngebiet vom freien Feld scheidet, dem genauen Betrachter einen Durchschlupf: die letzte Passage in Richtung des morgigen Tags. Sie führt in die Gegend eines abgewetterten Steigs, durch die Wiese, entlang an Streuobstflächen, zuletzt am Maisfeld vorbei. Wer neben der blitzgespaltenen Buche nach rechts biegt, erreicht einen schmalen Pfad. Folgt man diesem den Berg hinan und zweigt vor dem Hochstand nach links, so erreicht man endlich ein knappes Weglein, welches selten ein Wanderer wählt. Diesen Weg geht der Künstler entschlossenen Tritts.  Nach zirka sechshundert Metern sieht er sich um, entdeckt einen sumpfigen Tümpel und kniet schließlich ungelenk auf dem wohl bemoosten Boden am Ufer des Weihers nieder. Sie nennen ihn hier „den Teich der Ideen“. Aus dem löchrigen Futter seines abgewetzten Gewands fummelt der Künstler ein ärmliches bisschen Leben, befestigt es zittrig an der Rute aus Weidholz und stochert im faden Wasser der Welt nach ein klein wenig Fantasie. Er schöpft aus der Tiefe, doch fischt er im Trüben. Geht ein Bursche dem Reiz auf den Leim und schnappt sich den kärglichen Köder, so zieht der Künstler ihn rasch an Land. Dort wird der Einfall vermessen, gewogen und abgezählt. Wenngleich der Gedanke das Wohlmaß beweist, wirft der Künstler ihn meist zurück, denn er weiß, es gilt, den Bestand zu schonen. Dies Spiel wiederholt sich bis tief in die Nacht, bis der Künstler vor Erschöpfung zerschläft. Als die ersten Sonnenstrahlen ihn wecken, spürt er jeden einzelnen müden Knochen im Leib. Er sieht sich um und bemerkt einen Knaben, der wortlos ihn anstarrend am Wegesrand ausharrt. Schamesröte steigt dem Künstler ins Gesicht. Wie lange mag der Junge wohl schon dort stehen? Der Künstler beeilt sich geschäftig, mit seiner Tätigkeit fortzufahren und bemüht sich dabei, möglichst behände zu wirken. So fischt er zügig einige Ideen aus dem Teich, entfernt großgestisch den Haken aus deren Mäulern, woraufhin er sie gönnerhaft in die Pfütze zurückschleudert. Nicht einmal einen Köder benötigt er dabei. Zahlreich und zügig springen die edelsten Einfälle der Kunst auf den blanken Haken. Schweiß tritt auf seine Stirn. Zwei Stunden vergehen. Als der Künstler schließlich bemerkt, dass der Knabe, von welchem er sich beobachtet glaubte, längst seine Stelle verlassen hat, ist der Fischer enttäuscht und erleichtert zugleich. Erneut wirft er den Köder aus. Eine Stunde vergeht, doch niemand beißt an. Zwei weitere Tage verstreichen, an denen dem unglücklichen Petrijünger nicht der geringste Einfall ins Netz springen will. Verzweiflung bemächtigt sich seiner gequälten Seele und Sturzbäche von bitteren Tränen bahnen sich ihren Weg über die blassen Wangen des Anglers. Warum nur warf er zuvor alle zurück? Er steht nun mit leeren Händen da! Die prächtigsten Ideen, wahre Kaventsmänner in schillerndsten Farben waren ihm durch die Hände gegangen, doch all jene wurden verschmäht. Wie arglos, wie närrisch war er gewesen? In diesem Moment zuckt unter seinen Fingern die Leine und kraftvoll reißt ein Prachtfang am Stecken. Nach heftigem Kampf gelingt es dem Schöpfer, den Fang seines Lebens an Land zu befördern und erschöpft sinkt er neben seiner Beute zu Boden. Ein vigoröses Prachtexemplar von einem Gedanken, eine feurige Fantasie, veritable Erleuchtung, eine Offenbarung, nicht weniger als eine schillernde weltverändernde Vision zappelt mächtig und athletisch im Kescher des Künstlers. Zufrieden betrachtet er sie einen Moment, erhebt sich dann über den zuckenden Fang, greift schließlich zur Keule und zertrümmert ihm krachend den Schädel. Der Abend des vierten Tages dämmert bereits und feierlich trägt er den Körper zu Grabe. Aus sicherer Ferne sieht der wandernde Knabe im Schatten der Nacht, wie der Künstler in der feuchten Erde verlorener Illusionen seine Ideale verscharrt. Der Ideenteich ist sein Massengrab.

 

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