vonLeisz Shernhart 10.04.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Ich bin keine reale Person, ich bin ein Geist, gefangen in Sätzen. Wenn die Stunde schlägt, erhebt sich mühselig die Geisterhand und quält stöhnend das verwünschte krächzende Kratzen der Feder über den armselig in Lumpen gehüllten Fetzen Papier. Mit der Präzision eines Uhrwerks, das zwölfmal schlägt, verrichtet die für ehrlos erklärte und geschundene Seele ihre wortgewaltige Notdurft in einer der stinkenden Ecken des geheimen Zauberschlosses, das die Wanderer meist meiden. Verirrt sich dennoch ein Passant durch den letzten Busch der Allee dorthin, so muss ihm dieser Flecken verfluchter Erde zwangsläufig abstoßend erscheinen. Nichtsdestotrotz gerät der nächtliche Spaziergänger, der den sorgfältig zugeknöpften Kragen seines abgebürsteten alten Mantels mit den zu kurzen Ärmeln tief in das schlaffe faltige Gesicht geschlagen trägt, in den Bann des halb in Trümmern liegenden geheimnisvollen Gemäuers, das von schwarzem Efeu umrankt ist. Es ist die Art Gemäuer, um die sich alte Volksmärchen spinnen. Ein nächtliches Irrlicht weist dem bezirzten Wanderer den Weg, wobei sich dieser wie auf wundersame Weise mit jedem Schritt, den er sich dem verfluchten Gemäuer nähert, immer mehr in seine Kindheit zurückversetzt fühlt. Dabei verselbständigen sich seine kraftvoller werdenden Schritte sukzessive in Richtung einer sich grenzenlos entfesselnden Vorstellungskraft. Eine Schimäre aus Fantasie und Wirklichkeit erblickt das Licht der Welt vor dem geistigen Auge des geneigten wandernden Betrachters und verfertigt sich unaufhaltsam zur Vision eines prachtvollen Schlosses. Mit Neugier und heimlicher Scheu ergreift das Auge des gebannten Wandlers zwischen den Welten Besitz von der sich ihm darbietenden Erscheinung. Glänzende Säulen aus speckigem kunstvoll behauenem blank poliertem Stein, halb in den lehmigen Boden versunken, zieren den Eingang zu einem von der üppig wuchernden Wildnis umspielten Zaubergarten voll waghalsiger Wunderbilder. Hinter den hell vom Mondlicht beschmeichelten grünverschlagenen buschigen Dornenhecken scheint alles möglich, zumindest für den einzelnen mageren magischen Moment eines zögerlich brüchigen weinenden Wimpernschlags. In Wahrheit ist dies Trugbild eines Anschauungsgebäudes jedoch ein eisiges Inszenierungsgrab. Banalitäten haben die Mauern zerschliffen und die Grundfesten der übriggebliebenen Überzeugung auf anmaßendste Art und Weise erschüttert. Betritt der Wanderer zögerlich den vermeintlichen Palast, so wird er schlagartig gewahr, dass er in eine Falle getappt ist. Er ist der zerschundenen schreibenden Geisterseele auf den Leim gegangen und verfängt sich im Faden ihres klebrigen Geflechts. Im Innenraum des Gebäudes durchschaut der Gefangene blitzartig seine schwächliche Menschennatur und erahnt gleichzeitig die Blendung, welcher er wider besseren Wissens mit einer sich stetig verfertigenden Gewissheit erneut erlegen ist. Nichts ist im Inneren so, wie es von außen scheint, doch der Geblendete ist zum Schweigen verdammt. Zu groß ist die Scham darüber, erneut der Versuchung erlegen zu sein. Ein Blick durch den einzigen spärlich eingerichteten Raum des vermeintlichen Prachtbaus lässt erahnen, was es mit der Seele, die diesen Ort zur Geisterstunde behaust, für eine Bewandtnis hat. Auf der fleischig vergilbten Tapete sind mit Kreide geschriebene üppige Wortfetzen zu lesen. In der hintersten Ecke des viel zu kleinen Raums steht ein Schrein mit abgeschabten Ecken, aus welchem tausende Schichten von zerfressenen Zetteln hervorscheinen. Überdies ist die Kommode überladen von vertrockneten Hostien und abgegriffenen zerfledderten Werken mit abgeplatzten Ecken und Bändern, welche das modrige Bouquet eines repetitiven Zerfalls ausdünsten.  Auch der Tisch ist voll von Konvoluten, wobei eine Pfeife, die am Vorabend noch gebrannt haben muss, Löcher in die vordersten Schnipsel gezeugt hat. Zuoberst thront ein Milchkrug, der vor einem halben Menschenleben ausgetrunken worden ist. Man braucht ihn nicht mehr. In einer weiteren Ecke des Raumes befindet sich ein schäbiger alter Flügel, auf dem die Geisterhand allnächtlich zum Tageswechsel dauerhaft dieselbe grausame Melodie klimpert, bis der Spuk vorbei ist und von Neuem beginnt. Unter dem einzigen verschlossenen Fenster, dessen schwere staubige Vorhänge für immer zugezogen wurden, steht ein fleckiger Lehnstuhl, in dem der inhaftierte Wanderer zielstrebig Platz nimmt, wobei er sich ein letztes Mal schwer seufzend endgültig seinem schweigenden Schicksal ergibt und für immer einschläft, wie viele andere vor ihm auch.

Ich bin keine reale Person. Ich habe kein Geschlecht, keine Hautfarbe, kein Alter. Ich kenne weder Zukunft noch Vergangenheit. Meine natürliche Präsenz ist die Gegenwart. Ich kann nicht leben, denn ich wurde nie geboren, ich kann nicht sterben, denn ich bin schon lange tot. Ich habe kein Gesicht, keinen Hunger und keinen Durst. Ich bin eine knochige alte Geisterhand, die behäbig über die Seiten gleitet und Wanderer verführt, um sie in einem keuschen Lehnstuhl friedlich für immer zu verdauen.

 

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