vonLeisz Shernhart 19.04.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Vor ungefähr 33.000 Jahren kehrt ein abgekämpfter, erschöpfter Erstmensch nach einigen Stunden vergeblicher Lauer erfolglos von der Jagd in seine Heimathöhle zurück. Es ist später Nachmittag. Außerhalb der Höhle regnet es und es ist kalt. Die Fellbekleidung des hungrigen Erstmenschen ist nass und er friert, auch innerhalb der Höhle ist es klamm und dunkel. Er gesellt sich zu seiner Sippe, die sich eng um eine kleine Feuerstelle gerottet hat, verschlingt hastig etwas Pflanzenbrei, labt sich an heißem Wurzelsud und bettet seine müden Erstmenschenknochen auf einen flachen Stein, der ihm als Sitzgelegenheit dient. Sein Weib, das mit einer Art schmutzigem Flachstuch einen plärrenden Säugling vor die Brust gespannt hat, wirft dem armen Erstmenschkerl einen vorwurfsvollen Blick zu, da dieser es wagt, mit leeren Händen von der Jagd zu kommen. Der Rest der Sippe sitzt teilnahmslos am Feuer und lauscht dem prasselnden Regen, der sich in Sturzbächen über den Höhleneingang ergießt. Seufzend steht der erfolglose Jäger auf, verzehrt den letzten Schluck Sud aus seinem knöchernen Füllhorn und begibt sich daraufhin mechanisch, wie fremdgesteuert, in einen etwa 15 Meter von der Feuerstelle entfernten Seitenarm der Haupthöhle, der gerade noch so von einem flackernden Halbhell des Feuers spärlich beleuchtet wird. Ohne darüber nachzudenken, einem spontanen Impuls folgend, nimmt der Erbarmungswürdige den Splitter eines roten Steinchens zur Hand, welcher ihm gedankenlos auf dem Weg in die Nische in die Hände fiel. Einige Male dreht er den Splitter zwischen zwei Fingern seiner linken Hand und beginnt urplötzlich damit, die Umrisse eines Hirsches an die halbhohe Decke der Nische zu kritzeln. Es ist die Silhouette eben jenes Hirsches, dem der Elende zuvor einen halben Tag lang bei Wind und Wetter vergebens aufgelauert hatte. Während sein Magen knurrt und das Gebrüll seines Kindes seinen Blutdruck in Wallung bringt, skizziert er schemenhaft ein weiteres Tier an die Decke. Es ist ein Bison, das Lieblingsfleisch seines Weibs. Verschämt sieht er sich um, ob ihn wohl jemand beobachtet, doch niemand schert sich um das, was er tut. Also sucht er sich, dieses Mal zielgerichtet, einen weiteren Steinsplitter mit einer etwas breiteren und flacheren, flächigeren Spitze, welche er zur Hand nimmt, um die Konturen der beiden Tiere auszufüllen. Über diese konzentrierte Tätigkeit vergisst er sein Hungergefühl sowie jegliches Gespür für Raum und Zeit. Als er wieder zu sich kommt, sieht er sich zwei recht gelungenen Darstellungen eines Hirsches und eines Bisons gegenüber, welche rot von der Höhlendecke erscheinen wie ein heller Funken Hoffnung in finsterer Nacht. Um den Maler herum hat sich indessen kopfschüttelnd der Rest der Sippe versammelt. Einige blicken feierlich und scheinen zu begreifen, dass sie soeben Zeuge von etwas Großartigem werden durften. Andere stehen eher abseits und fällen ein vernichtendes Urteil. Dies war der Geburtsvorgang der Kunst. Der erste Künstler nimmt fortan innerhalb der Sippe eine Sonderstellung ein. Zur Jagd ist er nicht zu gebrauchen und auch sonst zu nicht viel, doch innerhalb weniger Monate ist die erbärmliche Höhlenbehausung bedeckt mit den verschiedensten, mehr oder weniger verfremdeten, farbigen Motiven, die allesamt der Lebens- und Erfahrungswelt des Künstlers entlehnt sind. Es dauert nicht lange, bis Epigonen damit beginnen, ihm nachzueifern und schließlich erarbeitet sich der erste Künstler ein gewisses Prestige innerhalb seiner Lebensgemeinschaft, wenngleich er bis heute von ebenso vielen verachtet wird.

 

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https://blogs.taz.de/postfaktisch/die-hoehle-von-altamira/

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