vonLeisz Shernhart 10.05.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

Mehr über diesen Blog

Neben den Disziplinen Grammatik und Dialektik stellt insbesondere die Rhetorik einen integralen Bestandteil des Triviums dar. Sowohl im griechischen wie auch im davon abhängigen lateinischen Bereich sind die wichtigsten Genera der frühantiken Rhetorik die der Staats –und Gerichtsrede (,genus iudicale‘ und ,genus deliberativum‘). Dabei gilt es, ein öffentliches Publikum (z.B. Richter, Geschworene oder ein Plenum staatstragender Personen) durch schlüssige Argumentation von einem bestimmten Redegegenstand zu überzeugen. Diese frühantiken Redeformen aus der Zeit der römischen Republik sind somit größtenteils fremdreferentiell. Als Gebrauchstexte verfolgen sie stets einen konkreten Zweck: Durch die Rede soll eine juristische oder legislative Entscheidung über einen in der Rede dargestellten Sachverhalt herbeigeführt werden. Aus der Praxis der Gerichtsrede entstand schließlich auch die Lehre der Beweisführung bzw. -findung. Die Fundorte der Beweise bezeichnete man als Topoi. „Die Topik als [Findungs-] Lehre von den rhetorischen Gemeinplätzen […] ist für die abendländischen Literaturen von unermesslicher Bedeutung geworden.“[1]

Im Gegensatz zur Staats- und Gerichtsrede steht das ,genus demonstrativum‘, das sich erst in der Spätantike bzw. der Kaiserzeit zu voller Blüte entfaltet. Diese rhetorische Gattung dient weniger der Entscheidungsfindung über einen konkreten Redegegenstand als vielmehr der situationsabstrakten Exhibition der Redekunst als solcher. Der Redegenstand ist dabei frei wählbar, verlagert sich jedoch zunehmend auf die Panegyrik bzw. die prunkvolle Zurschaustellung der Schönheit der Dinge. Besonders die Topik der Lobrede wird in der Kaiserzeit stark weiterentwickelt.[2] Abgesehen vom Herrscherlob ist die Hauptfunktion der epideiktischen Rede das Lob der Schönheit.[3] Neben Göttern, Herrschern, Tieren oder Unbelebtem ist es dabei hauptsächlich die Schönheit des menschlichen Körpers (in erster Linie des jungen geschlechtsreifen weiblichen Körpers), die betrachtet und rhetorisch kunstfertig beschrieben wird.[4] “Von dem Forum vertrieben, dringt die Rhetorik in die Kunstprosa, die Philosophie, die Poesie ein.“[5]  Diese Entwicklung markiert eine entscheidende Passage von Faktizität zu Fiktionalität, von Fremdreferentialität des Redegegenstandes zu dessen ausschließlichem Selbstzweck. Der Übergang vom rhetorischen ,genus demonstrativum‘ zur Poesie ist ein fließender. „Die Poetik, die aus der Rhetorik erwächst, übernimmt in ihrem Emanzipationsprozess deren Techniken, […] letztlich wird die Rhetorik zur Poetik.“[6]  Über die Tradition der mittel- bis spätlateinischen rhetorischen Poetiken, die im Mittelalter schulmäßig gepflegt werden, finden die ,personarum descriptio a corpore‘ respektive der Topos ,puella bella‘[7] ihren Einzug in das literarische Faktum. Tradiert durch normative Poetiken und poetische Praxis gehören sie fortan zum literarischen Standard der Dichtkunst.

 

Folgt Leisz Shernhart auf Facebook und Instagram!

 

 

[1] Curtius, E.R.: Dichtung und Rhetorik im Mittelalter. In: DVjS, Bd. 16 (1938), S. 435-475, hier S. 452.

[2] Dazu Curtius, E. R.: Begriff einer historischen Topik. In: Zur Literarästhetik des Mittelalters II, ZfRPh, Bd. 58 (1938), S. 129-232, hier S. 136.  Online zugänglich: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15908m/f9.image. 29.11.2012. 17:02 Uhr.

[3] Dazu Lausberg, H.: Handbuch der literarischen  Rhetorik. München 1973, S. 130.

[4] Dazu Krüger, R: puella bella. Die Beschreibung der schönen Frau in der Minnelyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Stuttgart 1993, S. 116.

[5] Curtius, Begriff [Anm. 2], S. 137.

[6] Krüger, puella [Anm. 4], S. 117.

[7] Die beiden Termini können synonym verwendet werden und bezeichnen im Großen und Ganzen dasselbe, nämlich die Beschreibung der Schönheit des weiblichen Körpers. Die Bezeichnung ,personarum descriptio a corpore‘ ist dabei streng genommen etwas allgemeiner gehalten und verweist eher auf den Ursprung des Topos aus schulrhetorischer Tradition. Dazu auch Krüger, puella [Anm. 4], S. 137.

 

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/postfaktisch/puella-bella/

aktuell auf taz.de

kommentare