vonLeisz Shernhart 11.06.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Gerade wohne ich dem Begräbnis eines Künstlers bei. Als der abgehalfterte Dorfpfaffe im abgetragenen Büßerrock den letzten Singsang vollendet, erhebt sich die spärlich besetzte Trauergemeinde. Die vorderen Flügeltüren der armseligen Aussegnungshalle werden von Handlangern des Bestatters geöffnet und die überschaubare schwarze Herde, allen voran die Welt, die den löchrigen schwarzen Schleier kurz anhebt, um in ein gräuliches Stofftaschentuch zu schnupfen, geht im Spalier an dem von zwei brennenden Kerzen gerahmten Bildnis eines Künstlers aus besseren Zeiten vorbei. Manche verneigen sich andächtig vor dem Bild, andere blicken betreten zu Boden. In einem feierlichen Akt wird die Urne der Welt übergeben, welche sie zu dem vorbereiteten feuchten Loch in der Erde verbringen wird. Im Rücken der Kastanie raucht der Bestatter indessen eine Pfeife. Das Trauergesinde folgt der Urne, über dem Loch ist ein Grabkreuz aus blättrigem Holz. Aus einiger Entfernung ist der Klang einer Trompete zu hören. Der Spieler begleitet das letzte Geleit und erhofft sich ein schmackhaftes Trinkgeld. Nachdem die Welt die Urne in das Grab versenkt, werden von den Hinterbliebenen, die allesamt einen recht verwegenen Eindruck hinterlassen, abwechselnd Blumen und Erdklumpen in das Loch geworfen. Die Blätter rauschen im Wind. Es ist kalt. Nieselnde Eisheilige verteidigen ein letztes aussichtsloses Mal die frostige Bastion des Winters, bevor der Frühsommer sie überrennen wird. Um das traurige Ereignis zu einem baldigen Abschluss zu bringen, spricht der kahle Pfaffe mit dem Backenbart mit feierlichem Pathos das folgende Gebet:

Die KUNST ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Sie weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Sie erquicket meine Seele. Sie führet mich auf rechter Straße um ihres Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn die Kunst ist bei mir, ihr Stecken und Stab trösten mich. Sie bereitet vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Sie salbet mein Haupt mit Öl und schenket mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause der KUNST immerdar.

 

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