vonLeisz Shernhart 25.06.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Der freie Mann liegt in Ketten. Seine einzige Bestimmung ist es, aus etwas Hässlichem etwas Wunderschönes zu machen. Jedoch ist in der Welt, in der er lebt, gerade dies ein Verbrechen. Versucht er sich in seiner winzigen Zelle zur Ruhe zu betten, krakeelt ein Habicht ihm aus nächster Nähe ins Ohr. Schlägt er ängstlich die Augen auf, so ist der Vogel verschwunden. Der Freigeist wundert sich, steht auf, gießt etwas von dem schalen Wasser aus dem Krug in die Karaffe, aus der Karaffe in den hölzernen Becher, aus dem Becher in die Karaffe zurück und lässt sie stehen. Fast wäre es ihm für einen kostbaren Augenblick gelungen, einen unschuldig klaren Gedanken zu fassen, als der Habicht die Karaffe vom Tisch stößt und den armen Mann mit schnatterndem Gelächter verspottet. Die Nächte des freien Mannes sind kurz, seine Tage sind lang. Versucht er sich für den Bruchteil einer Sekunde zu besinnen, zerpickt ihm der Greifvogel die blutigen Ohren und stößt seine Krallen tief in die fettigen Wülste, welche die Hirnwindungen des Elenden verfinstern. Er sieht müde aus. Aus traurigen Augen blickt der Gequälte in Richtung Freiheit. Sobald jedoch eine Ahnung von Leben sich in seinem Geist zu verfestigen versucht, stößt der Greif, der lauernd seine immer enger werdenden Kreise am Himmel zieht, gierig auf ihn herab, um ihn aufs Neue zu zerschinden. Die Eisen, die der freie Mann sich aus freien Stücken und höchstpersönlich ans Bein gebunden hat, wiegen schwer. Die Ketten, welche das rostige Metall verformt, reichen vom flüchtigen Einfall bis zur vagen Idee, erlauben jedoch keinen ausreichenden Radius, um zur Tat zu schreiten. So vergeht die Zeit. Das Verdikt ist vernichtend, die Dauer der Haft drakonisch. Der einzige Zellengenosse ist der Habicht, welcher lauert und schweigt. Versucht der freie Mann jedoch zu träumen, beginnt der Habicht hysterisch zu heulen. In guten wie in schlechten Zeiten. Bis an das erbärmliche Ende seiner trostlosen Tage. Bis die Erlösung sich seiner salzigen Seele ermächtigt und vergeblich versucht sie zu schlucken. Dann erst wird der Habicht sich erheben und triumphieren, denn nun darf auch er endlich frei sein.

 

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