vonLeisz Shernhart 10.07.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Ausgerechnet anlässlich eines Festakts zum 75-jährigen Bestehen des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg gibt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu verstehen, was er vom Erwerb der französischen Sprache als zweite Fremdsprache im Fächerkanon der weiterbildenden Schulen hält. Das mühsame Erlernen einer Fremdsprache wie Französisch könne man sich mittel- bis langfristig sparen, da sich in zehn Jahren ohnehin jeder einen Knopf ins Ohr setzen werde, welcher simultan übersetze, was da so gesprochen werde. Englisch bleibe zwar weiterhin sehr wichtig, um in einer globalisierten Arbeitswelt bestehen zu können, mit Sprachen wie Französisch verhalte es sich jedoch grundsätzlich anders. Es brauche, so Kretschmann, lediglich “kleine Kerne”, wo richtig Französisch gesprochen werde an Schulen. Man dürfe aber nicht mehr glauben, dass jeder ein bisschen Französisch können müsse. Und dann könne man noch nicht mal ein Eis bestellen, wenn man in den Urlaub gehe. Das mache keinen Sinn.

Vor diesem Hintergrund erlaube ich mir, Winfried Kretschmann als einen Kulturversager zu bezeichnen. Zwar muss man ihm zugutehalten, dass er immerhin noch großmütig einräumt, dass es beim Erwerb einer zweiten Fremdsprache nicht nur um Übersetzung, sondern auch um die Aneignung der jeweiligen Kultur und das Verständnis für das Gegenüber gehe. Dennoch halte ich Kretschmanns Sichtweise für grundsätzlich fragwürdig. Der Fremdsprachenerwerb leistet über seinen rein sprachpraktischen Aspekt hinaus einen wesentlichen Beitrag zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung. Wer sich die Mühe macht, eine Fremdsprache zu erwerben, lernt dabei nicht nur viel über sich selbst, sondern auch über die Denkweise, Gepflogenheiten und Vorstellungswelten der entsprechenden Sprechergemeinschaft. Auf Französisch würde man dies wohl als „différentes approches du monde“ bezeichnen. Franzosen frühstücken beispielsweise anders als Deutsche. Sie lassen sich mehr Zeit für das Mittagessen und messen generell Sinnlichkeit und Genüssen einen größeren Stellenwert bei als wir. Im Französischunterricht geht es unter anderem auch um solche kulturellen Unterschiede, Dinge eben, die man unter dem Begriff „Landeskunde“ subsummieren könnte. Französisch zu lernen an weiterführenden Schulen, bedeutet also mehr, als kontextunabhängig Vokabeln zu pauken und Verbformen in Lückentexte einzusetzen. Zumindest sollte dies der Anspruch sein. Und die zeitgenössische Methodik der modernen Fachdidaktik trägt diesen Anforderungen durchaus Rechnung. So können im Rahmen des Fremdsprachenerwerbs in einem geschützten Raum unterschiedliche Lebensentwürfe, Wahrnehmungen und Zugänge zur Welt betrachtet, erprobt, verglichen oder verworfen werden. Der Blick über den kulturellen Tellerrand ermöglicht es den Lernenden, ihren zivilisatorischen Horizont zu erweitern sowie ihre interkulturellen Kompetenzen zu stärken. Im Falle einer Sprechergemeinschaft wie der Frankophonie, also dem Ensemble aller französischsprachigen Länder und Regionen rund um den Erdball, bedeutet dies nicht nur den Blick über den Rhein, sondern umfasst zusätzlich noch weite Teile Afrikas sowie der Schweiz und Kanadas. Sprachliche und kulturelle Systemvergleiche ertüchtigen die Lernenden überdies, Rückschlüsse auf deren individuelle Lebensweisen zu schließen, was hochgradig identitätsstiftend ist. Zudem schafft Sprache Wirklichkeit. Wer eine andere Sprache lernt, beschäftigt sich zwangsläufig mit anderen Lebenswirklichkeiten, was grundsätzlich ein bereichernder Vorgang ist. Ich weiß nicht, ob ein KI-gestützter Knopf im Ohr das alles leisten kann, Herr Kretschmann.

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