vonLeisz Shernhart 31.07.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Ja, es ist wahr. Sie lesen ganz richtig. Dieser Satz stinkt wie die Scheiße einer fremden Frau. Ein wildes Weib vom Typus Sibylle. Eine Eigenheit der hässlichen Gelehrten ist, dass von dieser Frauenfigur keine Gefahr für den Helden ausgeht.  Obwohl der Anblick Sibylles Eneas zunächst Angst einflößt und ihn nachhaltig irritiert, hat er nichts von ihr zu befürchten. Sibylles schreckenerregendes Äußeres kontrastiert auf eindrucksvolle Weise mit ihrem inneren Wesen. Das gängige Schema, wonach Hässlichkeit mit Bösartigkeit koinzidiert, wird im Typus der hässlichen Gelehrten aufgehoben. Statt der Rolle eines Opponenten übernimmt Sibylle die Funktion eines Adjuvanten und ist somit dem Helden gegenüber positiv eingestellt. So verhält sich auch dieser Text. Er ist schwarz behaart und zottig wie ein Bär. Zudem hat er lange, verfilzte Haare, eine platte Nase und Augen, die in dem behaarten Gesicht wie zwei Kerzen brennen. Weiterhin hat er lange Augenbrauen, große Zähne, einen weiten Mund und spannbreit herabhängende Ohren wie ein Hund. Sein Rücken ist gekrümmt und buckelig. Die Brüste, die bis zu den Hüften herabhängen, gleichen zwei großen Taschen. An den Händen hat der Text Klauen wie ein Greifvogel. Seine Handballen sind hart wie die eines Bären, die Beine sind kräftig und die Füße unförmig. Summa summarum ist dieser Text ein bösartiges, halb tierisches, dämonisches Mischwesen, das mit übermenschlichen Kräften ausgestattet ist. Er stellt jedoch keine veritable Gefahr für den Leser dar, denn dieser Text ist wahr. Und dies ist sein einziger Makel, denn die Wahrheit ist dem Postfaktischen das Weihwasser für den Teufel. Neben den Assoziationen aus dem Bereich des Animalischen drängen sich bei der Lektüre Anspielungen auf die christliche Mythologie, konkret aus dem Bereich des Teuflischen, auf. Die leuchtenden Augen, die an brennende Kerzen erinnern, verleihen dem Antlitz des Textes etwas Dämonisches. Das Hässliche seines Wahrheitsgehalts wird somit nicht nur mit dem Tierischen, sondern gleichermaßen mit dem Diabolischen, Nichtgöttlichen in Verbindung gebracht. Die Tatsache, dass sich die Textbegegnung im Land der Heiden zuträgt, verstärkt diesen Eindruck noch. Letztlich ist die Rettung des Rezipienten nur dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass dieser den Wahrheitsgehalt des Textes fälschlicherweise für einen Drachen hält, vor dem er die Flucht ergreift. Schließlich begreift er jedoch, aus der Komfortzone eines gehörigen Sicherheitsabstands heraus, dass dieser Text, so unansehnlich er auch sein mag, wider Erwarten, ganz harmlos und grundsätzlich sogar liebenswert ist. Unschön, aber liebenswert und, das wichtigste (!), jedes Wort ist die Wahrheit. Ein wohl komponiertes kleinkariertes Stückchen konstruierter verfremdeter Wirklichkeit ist dieser Text. Nicht gerade ein Kleinod, aber durchaus tauglich zum reinen Selbstzweck.

 

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