vonLeisz Shernhart 08.08.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Am 01.03.23 war Jushis erster Todestag. Heute sind auf den Tag genau 522 Tage vergangen, seit er durch die Hand der russischen Truppen in seiner ukrainischen Heimat getötet wurde. Heute morgen habe ich an ihn gedacht und eine Kerze für ihn angezündet, doch der Alltag hat das Leben dominiert. Weinen konnte ich nicht. Inzwischen habe ich nur noch sehr sporadisch Kontakt zu Nataliya und Milena. Sie wohnen derzeit in Berlin und Nataliya hat recht gut Deutsch gelernt. An Jushis Todestag haben wir telefoniert. Sie war kurz angebunden und wirkte gefasst. Kolja soll wohl, nachdem er mit anderen Kämpfern im Asowschen Stahlwerk in Gefangenschaft geraten war, inzwischen wieder in der Ukraine sein. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs ist er freigekommen. Wenn er noch atmet, kämpft er. Inzwischen ist er mehr Soldat als Lyriker. Wie viele meiner Brüder vom Anarchostalinistischen Schriftsteller*innen-Verband hat er die Feder auf Grund der Umstände vorläufig gegen das Schwert getauscht. Um Jushis Todestag herum habe ich mich nach längerer Zeit wieder mit seinem Werk befasst und damit begonnen, einen weiteren seiner Texte zu übersetzen. Meine Wahl fiel auf ein Gedicht, von dem ich weiß, dass er es sehr liebte. Er hatte es seiner Tochter gewidmet. Die Übersetzung ins Deutsche fiel mir schwer und sie hat bis heute gedauert, da mir viele andere Projekte zwischendurch kaum Zeit zum Atmen ließen. Der folgende Text trägt im Ukrainischen Original den Titel „зелене місце“. Ich habe ihm den Namen „am grünen Ort“ gegeben. In Gedenken an Jushi. Ich hoffe sehr, du hast deinen grünen Ort gefunden und da, wo du jetzt bist, geht es dir gut, Bruder!

 

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  • Iljushan Berenskiev  – Am grünen Ort 

 

 

Am grünen Ort, am grauen Haus.

Am grellen Hort, wo Stille haust;

Und seitab ruht das Leben.

 

Wo Seele horcht und Rabe schmaust,

wo Liebe ist abhanden,

will lang‘ ich nicht verweilen.

 

Es rauscht der Wind – nichts weiter sonst.

Wo Wesen keine Unterkunft,

es schmollt das zarte Kindlein.

 

Des Frühlings Vogel einzig Quell‘

Bis man realisiert zu spät

Wes Wohl hier existiert.

 

Nicht alle gleich – da, der Teich!

Um alles Sein rotiert, die reiche Schaar

Mit Fleiß gemalt, das Rebgebräu montiert.

 

Es ist noch da, das Tier!

Vielleicht hort‘ ich im Falschen.

In Rauch platzierte Stunden, wo Leben einfach rauscht.

 

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Iljushan Berenskiev (1981 – 2022) – Am grünen Ort (2017)
• Originaltitel зелене місце, aus dem Ukrainischen übersetzt und herausgegeben von Leisz Shernhart, redaktionell bearbeitet.

 

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