vonLeisz Shernhart 05.10.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Eine vierköpfige junge Familie steigt inmitten einer europäischen Hauptstadt aus der Tram. Die Station befindet sich in der Stadtmitte, das Stadtzentrum ist voller Menschen, größtenteils Touristen. Die beiden Kinder sitzen in einem modernen Fahrradanhänger einer bekannten Marke, den man ohne Kupplung auch als Doppelkinderwagen nutzen kann. Eines der Kinder schläft, das andere stopft Süßkram in sich hinein. Die Eltern schwitzen. Beide bringen einige Kilo zu viel auf die Waage. Den Trubel der Großstadt sind sie nicht gewohnt. Der erste Weg führt sie vorbei an einigen Edelboutiquen zu einem Eisstand. Das wache Kind bekommt drei Kugeln, die Eltern jeweils zwei. Die Mutter schießt mit ihrem nagelneuen Handy acht Fotos für ihren Status.

 

Vor dem Eingang einer Markenboutique liegt ein Obdachloser auf mehreren Pizzakartons und blickt teilnahmslos dem Touristenstrom hinterher. Auf ein Schild vor sich hat er das Wort „Hunger“ geschrieben, daneben liegt eine umgedrehte Schiebermütze mit einigen Centmünzen darin. Zwei Polizisten bauen sich vor ihm auf, schirmen seinen Anblick vor der Öffentlichkeit ab, packen ihn entschlossen an den Achselhöhlen und zerren ihn diskret davon.

 

Die Eltern und ihre beiden Kinder stehen in der Schlange vor der Kathedrale. Ein Wasserverkäufer bietet ihnen eine Plastikflasche an. Der Vater lehnt ab. Die Schlange bewegt sich langsam. Am Eingang der Kathedrale werden Taschen vom Sicherheitspersonal inspiziert. Jeder Besucher muss am Einlass durch einen Metalldetektor. Der Eintritt kostet 11 Euro pro erwachsene Person, Kinder ab vier Jahren kosten die Hälfte, unter zwei Jahren ist der Eintritt frei. Ein Straßenkünstler jongliert und geht mit dem Hut die Schlange entlang. Als ein Wachmann ihn entdeckt, verschwindet er sofort.

 

Ein Kellner ist seit 6 Stunden pausenlos auf den Beinen. Er raucht seine erste Zigarette, bevor er am Service-Pass den Touristen in die Vorspeise spuckt. 

 

Die Familie sitzt in einem Café. Die Eltern kosten die landestypische Spezialität mit dem passenden Glas Weißwein. Die Kinder trinken Coca Cola aus Plastikstrohhalmen und essen Pancakes mit Schokosahne. Die Rechnung beträgt 74,35 Euro. Der Mann bezahlt in Bar. Das Trinkgeld beträgt 65 Cent.

 

Zwei Mädchen spielen auf einer vermüllten Grünfläche mit einem Joghurtbecher. Ihr Onkel kriecht aus einem Zelt. Sein Mobiltelefon vibriert.

 

Die Mutter bestellt an einem Automaten ein Ticket für eine Bootsrundfahrt. Sie bezahlt für alle zusammen 56 Euro und regelt die Rechnung mit American Express. Der Kinderanhänger ist zu groß, um ihn mit auf das Schiff zu transportieren. Die Servicekraft am Einstieg gibt zu verstehen, dass man den Wagen am Kai angekettet zurücklassen könne. Widerwillig verlassen die Kinder das Gefährt, um das nächste zu besteigen.

 

Ein junger Mann, der in der Schlange vor dem Bootsanlegesteg überteuerte Sonnenhüte feilbietet, entdeckt einen herrenlosen Anhänger. Er tippt etwas in sein Mobiltelefon.

 

Die Bootsfahrt führt vorbei am Parlamentsviertel. Der Audioguide erzählt in mehreren europäischen Sprachen die bewegte Geschichte der Stadt und deren tiefe Verbundenheit mit der Geschichte der demokratischen europäischen Nachkriegsordnung. Links sieht man das Denkmal der Erklärung der Menschenrechte. Das Parlament tagt viermal pro Monat. Heute ist eine Sitzungswoche.

 

Am rechten Ufer sieht man versteckt hinter Büschen eine schmutzige Zeltstadt. In einiger Entfernung hört man eine Sirene. In der Zeltstadt klingeln Mobiltelefone. Menschen suchen verzweifelt das Weite.

 

Das Boot legt an, die Familie steigt aus. Die Eltern sind genervt, denn die Kinder quengeln. Die Mutter beruhigt sie mit einer Tüte Gummibärchen. Der Fahrradanhänger ist nicht mehr da. Das Schloss hängt durchschnitten am Zaun des Anlegers. Das Personal ist ratlos, man rät dazu, die Polizei zu verständigen. Das kleine Mädchen weint. Ihre Meerjungfrau aus Plastik befand sich noch im Anhänger. Nun ist sie weg. Die Eltern kaufen den Kindern zum Trost einen Gorilla aus Plüsch. Der Anhänger war versichert.

 

Ein Mann mit einigen Sonnenhüten schiebt einen Fahrradanhänger in eine Stadt aus schmutzigen Zelten. Zwei junge Mädchen spielen mit einer Meerjungfrau.

 

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