vonLeisz Shernhart 25.01.2024

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Ich sitze im Theater, Schauspiel Stuttgart, die Sitze sind reichlich unbequem. Das Saallicht erlischt und die Inszenierung beginnt. Es ist eine Stückentwicklung von René Pollesch, gemeinsam mit dem Ensemble innerhalb weniger Probentage erarbeitet. Direkt zu Beginn senkt sich im Schneckentempo an einem dünnen Drahtseil eine überdimensionierte knallrote Zunge, die eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem Logo der Rolling Stones aufweist, von der Decke herab und setzt sanft auf dem Bühnenboden auf. Die Spielerinnen und Spieler übersehen überzeugend den Vorgang. Während des gesamten Stückes, das immerhin knapp 90 Minuten dauert, würdigen die Figuren die Zunge keines Blickes. Auch in den Dialogen wird sie nicht die geringste Rolle spielen. Die Frage, ob die Zunge Requisit, Kulisse oder sonst irgendwie stückdienlich ist, nehmen die Zuschauenden nach dem Ende der Inszenierung, die mit mittelmäßigem Applaus endlich abschließt, enttäuscht mit nach Hause.

Als ich mit der Bahn zurück nach Cannstatt fahre, belausche ich unbeabsichtigt folgenden unbedeutenden Dialog zwischen einem jungen Lehrer und seiner Schulklasse, die offensichtlich von ihm genötigt worden war, sich dasselbe Stück wie ich anzusehen.

 

Schüler:              Herr Bratis-Berger, darf ich Sie mal was fragen?

Bratis-Berger:   Äh, ja…

Schüler:              Was sollte das mit der Zunge?

Bratis-Berger:   Welche Zunge?

Schüler:              Na, die im Theater.

Bratis-Berger:   Ach so, äh ja, na, was meinst du denn?

Schüler:              Kein Plan!

Schülerin:          Ja, was sollte das bedeuten? Sie müssen das doch wissen.

 

abo

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Der Lehrer sieht noch recht frisch aus, so als hätte er noch nicht sehr lange sein Studium beendet. Master of Education. Scheinbar hat er auch das Referendariat erstaunlich unbeschadet überstanden und nun darf er sich auf einen Marathon an Dienstjahren freuen, welchen er sprintend beginnt. Man kann nur hoffen, dass ihm nicht auf halber Strecke die Puste ausgehen wird. Alles im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit. Sämtliche Schüleraugen sowie der Blick einer übermüdeten Referendarin sind gespannt auf Bratis-Berger gerichtet und erwarten seine kluge Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Zunge. Wer die Referendarin aufmerksam beobachtet, meint ein nervöses Zucken in ihren Gesichtszügen entdecken zu können. Ausgerechnet mitten in ihrem Lehrprobenzeitraum hat die völlig übernächtigte und zerarbeitete junge Frau nun auch noch das große Vergnügen, eine Klasse mit ihrem Mentor Bratis-Berger zusammen zu dieser Theater-Exkursion begleiten zu dürfen. Da sie eine abschließende Schulleiterbeurteilung befürchten muss, war das Wörtchen „nein“ aus ihrem Wortschatz bis auf Weiteres verbannt worden. Und so sitzt auch sie nun hier in der Stadtbahn Richtung Canstatt. Wie wird Bratis-Berger sich nun aus der Affäre ziehen? Wie wird er die Frage nach der Zunge wohl beantworten, er, der vermeintlich an diesem Ort, in diesem Moment die fleischgewordene diensthabende Autorität, die Expertise auf dem Gebiet der Germanistik verkörpert?

Lesen Sie seine Antwort im nächsten Blogbeitrag…

 

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