vonPhilipp Rhensius 09.04.2023

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

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Es ist März und ich stehe auf glitschigen Felsen einer europäischen Insel. Ich bin für eine Woche hier, um herauszufinden, wie das so ist, unter all den anderen Tourist*innen der heimischen Entfremdung entflohen zu sein und in einer anderen anzukommen, ihr quasi als Karikatur wiederzubegegnen. Während die, die hier leben, gerne dahin wollen, wo die Leute, die sie bedienen, leben. Die 8-teilige Text-Serie hat nur eine Vorgabe: Alles muss in Bewegung verfasst sein. Bewegung schützt vor Verwurzelung des Körpers und des Denkens. Los geht’s mit Teil 1.

Was ist deine Lieblingsfrage?

Kein Beschreiben entkommt der Leere der Welt.

So intensiv wie möglich beschreiben, das stetige Füllen der Leere soll von ihrer Unmöglichkeit ablenken, weil Raum weniger wichtig als Zeit.

Hier oben im Vulkangebirge, 1032 Meter über dem Wirklichkeits-Spiegel.

Das Knistern der unter den Schritten aktivierten Steine.
Klacken in satten Rhythmen.
Weil sie fast hohl sind, fadet ihr Klang langsam aus. Seine Substanz ist bauchig.
Es heißt, wenn ein Stein hier unten in Bewegung versetzt wird, spüren die Steine 500 Meter weiter oben noch die Vibration.

Ich autorisiere meinen Kopf, über die Beine verfügen zu können. Hier unter diesen schönen Steinen, in dieser klaren Bergluft, unter den Augen der Greifvögel könnte ein Beach Resort stehen. Stattdessen nur sich selbst überlassene Landschaft.

Fuck, mein Hals ist trocken, aber ich habe kein Wasser dabei. Die Anreise mit 3 Bussen war so aufreibend, dass ich das Gefühl für Wasserversorgung verloren hatte. Hier oben nichts als Vögel, Hunde, Salamander und Schmeißfliegen, die um mich herum schwirren, weil der Ort, auf dem ich pausiere, als Toilette benutzt wird, wie ich erst jetzt an den getrockneten Taschentuchfetzen bemerke, die über dem Gestein und hinter dem schattenspendenden Monolith verteilt sind.

Was ist deine Lieblingsserie?

Bald schon wird die Sonne untergehen und Tausende werden ihrer Bewegung und der von ihr produzierten farblichen Textur folgend in den Himmel starren.

Einer Sache dabei zuschauen, wie sie keine Sache ist, sondern eine Serie mit unendlichen Folgen, die sich aber nur in kleinen Nuancen verändert und daher auf den ersten Blick aussieht wie eine Wiederholung, pah.

Hier oben nichts davon und stattdessen auf der Dachterrasse das steil abfallende Dorf überblicken und diese Stille.

nichts
nur leises rauschen des windes am ohr
weit entferntes
hundegebell südwestlich
und rufe
Victoria Victoria Andale oder so

Kinder von weiter unten tönen herauf. Dann eine Frau, ich glaube, die Großmutter. Ah ok, Menschen kommunizieren hier über Rufe. Das können sie, weil es hier still genug ist. Sie nutzen den akustischen, nicht visuellen Raum. In den verwinkelten, steil nach oben ragenden Gassen geht der Blick nicht weiter als vielleicht 5 Meter.

Kool. Hören. Eine Haltung zur Welt, die offen ist, weil sie nicht so verbaut ist mit Begriffen wie das Sehen.

Angesehen werden löst bei mir oft das Gefühl des ertappt werdens aus. Fast immer, wenn mich jemand anschaut, denke ich: fuck, sie wissen bestimmt, dass ich ein Flop bin, eine unsägliche Unmöglichkeit, jemand, der etwas vorgibt, was er nicht ist, ein Blender, ein Idiot, ein Spinner, ein Eindringling, ein Versager, ein Verbrecher. Womöglich kommt dieses Gefühl aus meiner Kindheit, in der einige dieser Attribute durchaus zutreffend waren. Und während mir der soziologische Doppelblick auf mich selbst, also der soziale Spiegel, bestätigt, dass ich die meisten dieser Attribute inzwischen überwunden habe, steckt das ertappt worden sein immer noch tief in den Knochen. Wenn ich dann im Ausland angesehen werde, ertappe ich mich als weiße Person oft selbst, bevor es andere können. Dann schäme ich mich für die dominante Kategorie, aus deren Ketten ich mich trotz stetiger Selbstreflexion und Privilegien-Checks nicht befreien kann. Jahrhunderte von Blödsinn lassen sich nicht so einfach aus dem Körper kriegen. Ich implodiere dann oft nach innen.

Es heißt, wenn Vulkane deprimiert sind, explodieren sie und spucken kilometerweit Lava aus und bedecken die Welt mit tödlicher Asche. Die Verbundenheit und Unverbundenheit der Landmassen auf dieser Erde. Derweil schiebt sich die Sonne immer weiter über die sich jetzt am Horizont gebildete Wolkenschicht und ertränkt die Welt in gefährliches Orange.

Und jetzt bellen überall plötzlich Hunde
vermissen sie die Sonne oder was
etwas aufschreiben und warten bis es Fiktion wird
und das gelesene ist dann Wirklichkeit
und das gehörte alles dazwischen.

Eben stach mich eine Mücke in den Nacken.

Glückwunsch, aber ich werde das und damit dich schnell vergessen, Bitch!

Jetzt hier irgendwas politisch Relevantes einfügen.

Die Sterne maßen sich an, als ich 1 Stunde später wieder auf dem Dach bin. Ihre Struktur, diese krasse Struktur, fein verästelte Leuchtdioden, die dann, nach längerem Hinschauen, zu

Strichen Kreisen Rechtecken Ellipsen Dreiecken Pfeilen Wolken Buchstaben Gebäuden Flüssen

Was ist deine Lieblingsfarbe?

Ich will hier nie wieder weg!

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