vonPhilipp Rhensius 13.09.2022

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

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In Felton ist das Cafe gespenstisch angenehm. „White Raven“ klebt in einer 70s-Typo auf dem Fenster und das ist keine postmoderne Ironie. Ich bin kurz vor Feierabend da.

Zwei junge Typen Mitte 20, Typ Literatur-Studierende, stehen hinter einem unkuratierten Tresen. Die Fenster brechen das sepiafarbene Sonnenlicht. Es läuft Swing Jazz. Ein Mann sitzt vor einer mobilen Schreibmaschine an einem Tisch, daneben ein Hut. Der Espresso knallt wie in Porto. Dicker brauner Sud, der die Zähne verfärbt und die Seele informiert. Um 18.25 Uhr sagt der Kurzhaarige der beiden, schüchtern, aber mit US-amerikanisch geschulter Roboterstimme:

„The White Raven schließt in 3 Minuten“.

Zurück in Santa Cruz kommt mir auf dem Bürgersteig Waller Street Fillmore Street eine Frau entgegen. Ich stelle mir vor, wie mein schüchternes Lächeln das letzte Lächeln meines Lebens ist, weil ich nicht nach rechts schaue und mich der heranrasende silberne SUV überrollt wie ein Spielzeugauto eine Fliege. Google it.

Im Bus 33 Richtung Westen kommen die Durchsagen auf 4 Sprachen. Englisch. Kantonesisch. Spanisch. Mexikanisch.

Drei Tage später in San Francisco. Bock auf eine fokussierte Sinneserfahrung haben und auf einem Flyer im Anarchist Bookshop eine Konzertankündigung für den gleichen Abend im The Lab sehen. Als ich dort ankomme, sind fast alle Plätze auf Stühlen und Boden belegt. Ich schlängele meinen Körper durch immer nur recht träge zurück gezogene Beine und Füße. Ich habe das Gefühl, dass das Suchen nach einem Platz kein allgemein anerkannter Move ist.

…ist ja gut, entspannt euch mal…

Nach 3 Runden sondieren ah ein freier Stuhl. Ich traue mich kaum, aber frage den Typen daneben, ob der Platz frei ist. Er sagt, da habe jemand gesessen, lässt aber offen, ob er wieder kommt. Und jetzt? Ist es eine Einladung, mich zu setzen oder soll ich weitersuchen? Ich sage, dass ich den durchschnittlichen Mindestabstand hier im Lab nicht kennen würde und spüre, der Witz hat keinen kulturellen Wiedererkennungswert, was mir peinlich ist, aber scheiß drauf, als er seinen Kopf kurz darauf wieder Richtung leere Leinwand richtet, gehe ich mit einer Mischung aus ruckartigen und tänzelnden Bewegungen ganz nach hinten, wo Stühle eingeklappt an der Wand lehnen. Ich beschließe den Stuhl auf einen Platz vorne links direkt neben dem Mischpult zu stellen. Kein guter Platz, weil der Sound unvorteilhaft und die Leinwand nur seitlich sichtbar.

Die Performances sind dann sind ziemlich geil. 3 Duos spielen experimentelle elektronische Live-Musik mit analogen Film-Projektionen. Bild und Ton sind un-synchronisiert und lassen genügend Platz für eigene ästhetische Vervollständigungen. Es sind 20 Minuten-Sets mit kurzen Pausen dazwischen. Das Konzert ist um Punkt 10 pm aka 22 Uhr vorbei. Aber ich bin immer noch angespannt, weil alles furchtbar steif. Der Applaus ist monoton. Niemand unterhält sich. Die Libido bleibt ausgesperrt wie das Figurative in der gezeigten Kunst.

Am nächsten Tag am Pier 41 sagt der Schwarze Mitarbeiter des Fährunternehmens zur Mutter einer Familie: „Könnten Sie sich bitte in die Schlange nach rechts anstellen, vielen Dank“. Die weiße Frau lacht nervös und sagt: „Ha, bisher bekamen wir keinen Ärger in unserem Urlaub, jetzt also doch noch“. Der Mann schaut sie an und sagt nichts. „Ok, ist ja gut, wir werden ihren Befehlen folgen“. Der Mann sagt: „Ich werde sie im Auge behalten“. Es ist unklar, ob es ernst gemeint ist, weil seine Stimme monoton und die Sonnenbrille seine Augen verdeckt. Oder ob es eine angemessene ironische Entgegnung war auf die passive Aggression der Frau , die sich sowohl mikrorassistisches als klassistisch verstehen ließen oder als arrogantes Entitlement.

Im Cafe der Fähre reibe ich mir versehentlich so eine Vanillecreme in die Hände, weil sie von außen genauso aussieht wie die Desinfektions-Spender, die sonst so neben der Kasse stehen.

In Sausalito, einer kleinen Küstenstadt nördlich von San Francisco komme ich an einer Hausversteigerung vorbei.
Coldwell Residential Brokerage Open Jeanette Cling 415.706.
Aus einem silbernen Auto Typ Limousine steigt ein Paar Mitte 50 auf den Parkplatz direkt vor dem Haus. Oben an der Haustür ziehen sie ihre Schuhe aus und verschwinden hinter der Holztür im satten Schwarz.

San Francisco kaufte 1890 35 Kanonen und Unterwasser-Minen und stationierte sie in der Nähe der Golden Gate Bridge. Es diente zur Küstenabwehr. Steht auf einem Schild am südlichen Aussichtspunkt.

Auf der Brücke umweht ein aggressiver Wind meinen Hals und lässt meinen Körper trotz 27 Grad frieren. Kaltheiß wie bittersweet oder so. Ich mag kein Lakritz und frage mich, welche Persönlichkeitseigenschaften damit verbunden sind, es zu mögen oder nicht…

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https://blogs.taz.de/reality-glitch/produktive-missverstaendnisse-1/

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