Wie blicken Sie auf das Humboldtforum? Welches Bild vermittelt es Ihrer Ansicht nach im Stadtraum?
Ich habe meine Sicht bereits vor zehn Jahren zu Papier gebracht und an Horst Bredekamp und verschiedene Beteiligte überstellt. Diese Herrschaften haben aber nie reagiert. Meine Gedanken sind in zwei Hinsichten ausgeprägt. Erstens: Was sollte man mit dem Äußeren des Schlosses machen? Zweitens: Was wäre eigentlich im seinem Inneren, als Programm denkbar?
Nach außen würde ich gerne die Fassade des rekonstruierten Schlosses umgestalten. Ich stelle mir eine schöne Kullisenschieberei vor, wie im Theater. Sollten die Kulissen, etwa bemalte Großvorblendungen aus Holz, zu teuer werden, dann doch zumindest nachts vermittels Projektionen. Mit Inhalten entsprechend dem Resultat der in diesem Haus beschlossenen Politik. Dem Publikum soll durch den Eingriff vor Augen geführt werden, was von dieser nationalistischen Selbstübergipfelung – man kann auch sagen: Machtwahnsinn – kommt. Nämlich war das Resultat der Politik von Wilhelm II. bis Adolf Hitler, dass das, was sie sich als größenwahnsinnigen Erfolg vorgestellt hatten, dazu führte, dass Deutschland immer kleiner und kleiner wurde und verlor. Nicht nur Menschen, Ansehen, Moral und Selbstdistinktion, sondern auch an Territorium. Ostpreußen, Pommern und Schlesien – das ging schließlich schon vor dem zweiten Weltkrieg los.
Da würden die Schlossfreunde wahrscheinlich sagen: Ist ja interessant, ihr Blick auf die deutsche Geschichte. Was aber hat das mit dem Schloss zu tun?
Das ganze nationalsozialistische Irrsinnsprogramm ist in diesem Schloss durch Wilhelm II. und seine Entourage entwickelt worden. Die Nationalsozialisten haben ja nichts Eigenes geleistet – keine Oper, keine Literatur, keine politischen Vorstellung. Auch keine Architektur, die ja so oft hervorgehoben wird. 1937 auf der Pariser Weltausstellung konnte man sehen, dass der Monumetalstil gleichermaßen für die amerikanische und die französische Republik sowie das faschistische Italien funktionierte. Was später mit Speer und anderen identifiziert wurde, war geklaut.
Mit anderen Worten Nazis waren die reine Impotenz. Wenn einer nichts ist und nichts zu sagen hat, nichts kann und nichts weiß – dann hau da drauf.
Jetzt lassen Sie uns doch mal einen Blick auf Wilhelm II. werfen. Wie hat er sich in das Gebäude des Schlosses eingeschrieben?
Nun, darin hat der Mann gehaust. Das war die Hülle und von dort aus hat sich das ganze Operettentheater dargestellt. Dazu müssen Sie wissen, dass er von Eulenburg – den ihn begleitenden Erzieher – bereits zur Zeit seiner prinzlichen Existenz auf Wagner getrimmt wurde. Gleich der gesamten Generalität und der Entourage, die den späteren Kaiser Wilhelm II. begleitete. Seine Eltern, der Vater Friedrich III. und seine Mutter Victoria, die bevorzugte Tochter der britischen Regentin, waren die Hoffnung der ganzen Welt. Leider starb Friedrich III. nach nur wenigen Monaten auf dem Thron an Kehlkopfkrebs. Mit dem Tod der Mutter ging alles, was jemals Vernunft, Aufklärung, Weltgedanken in die deutsche Politik hätte bringen können, zu Ende und das Ganze nahm den Wagner‘schen Lauf.
Weg von der bloßen Bühnenexistenz, wo die Priorität des Germanentums gefeiert wurde, hinein in die reale Geschichte überführt. Das ist das Modell zum Programm: Die Franzosen toben vor Begeisterung, die Engländer kommen in Scharen, alle auf dem Grünen Hügel, alle begeistert. Und das deutsche Kaiserreich sollte ein großes, auf die nationalen Verhältnisse übertragenes Bayreuth sein. Was als Beweis dafür noch ausstand, war eine Großinszenierung. Und das war der Erste Weltkrieg.
Sie beschreiben das Schloss als Ort der Macht. Zugleich war es Schauplatz verschiedener Aufstände und Proteste – 1442 der Berliner Unwille, 1848 die Märzrevolution und schließlich 1918 die Novemberrevolution, die dem Kaiserreich ein Ende gesetzt hat. Welche Rolle würden diese Dimensionen von Geschichte in Ihrem Szenario spielen?
Die Novemberrevolution hat nur gezeigt, was inhärent schon immer faul war. Die Sozialdemokraten haben, um den Ruf als vaterlandslose Gesellen loszuwerden, für die Kriegsanleihen gestimmt. Einige Juden glaubten, sie könnten den ihnen zugesprochenen „Makel“ loswerden, indem sie noch nationalistischer und heldischer auftraten als diese Theaterfiguren um Wilhelm II. 1920/21 bahnt sich an, was zunächst im nationalsozialistischen Aufstand von 9. November 1923, dem Jahrestag der vermeintlichen Kapitulation Deutschlands 1918, gipfelte, auf welchen weitere November folgen, inklusive der sogenannten „Reichskristallnacht“ bis hin zu 1989. Heute sehen wir, dass auch nach 70 Jahren demokratischer Vorgaben für ein vernünftiges Integriertwerden in die zivilisierten Länder Europas das Dritte Reich nicht beendet worden ist. Es ist weder etwas gelöst worden noch beendet.
Jemand, der sich für das Entstehen des Schlosses eingesetzt hat, ist der Altkanzler Gerhard Schröder. 1999 sagte er in einem Interview in der ZEIT, man solle “dem Volke was für die Seele” geben, das sei “außerordentlich befriedend und damit auch befriedigend”.
Welche Haltung kommt diesem Projekt zur Geltung?
Von wegen dem Volke etwas schenken. Das ist so, als ob er da seinen lokalen Fußballverein gefördert hat. So sah er nämlich die Nation. Und wieder einmal nahm man an: „Wir sind die Größten, haben alles, zahlen alles, können alles. Und alle anderen haben sich gefälligst daran anzupassen“. Völlig geschichtsvergessen das Ganze. Und das Resultat ist der Wiederaufbau des Schlosses, nicht wissend, was ein Humboldtforum sein sollte.
Das Konzept des Humboldtforum war, dass alle drei Nachbarn einen Anteil an dem Ort bekommen: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Humboldt-Universität und die Stadtbibliothek.
Das ist als würde man sagen, alle haben den Zugang zu Persil, Haribo und Mercedes. Das ist doch kein Konzept. Das ist doch einfach lächerliche Werbung für Produkte.
Wir haben ein Programm vorgeschlagen, wie es wirklich im Sinne Humboldts wäre. Ich meine Wilhelm Humboldt, da die meisten an den Herren denken werden, der in Südamerika rumgekrabbelt ist. Der große Bruder war der entscheidende Mann für Preußen und die Philosophie, die Geschichte und die Linguistik. Wilhelm war‘s – zusammen mit einer Reihe von anderen –, der damals schon konzipiert hatte, was ein Humboldtforum eigentlich ist.
Gerade heute wird erkennbar, wie zum Beispiel analphabetische Weberinnen am südöstlichen Rand des Kaspischen Meeres vor 500 oder 600 Jahren ästhetische Erscheinungsformen in der Webtechnik entwickelten, etwa in der Kelim-Herstellung, deren Qualität erst Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht worden ist. Da fragt man sich doch, wie Kulturkollektive derartige Attraktivität erzeugen konnten, die in den – im westlichen Konzept der Kultur entgegengesetzten – Künsten und Wissenschaften erst sehr viel später zur Geltung kamen. Wie ist es möglich, dass Picasso und Braque ein solches ästhetisches Interesse an den Kulturformen Afrikas entwickelten, obwohl sie doch die avanciertesten künstler in Europa waren? Giacomettis Bezüge reichten gar zurück bis in die mykenische Zeit.
Humboldt hat sich bemüht zu zeigen, wie in den Kollektiven der Kulturen ohne ausgebildete Fachleute, wie wir sie kennen –Künstler, Maler, Bildhauer – ästhetische Hochleistung entwickelt in der Kultform werden konnten, die mit Kunstformen ungeheure Ähnlichkeit aufwiesen. Wie entdeckte man – unter Vorrang der genuin europäischen Künstler-Konzeption ‚Autorität durch Autorschaft‘ – die Hochleistungen von Kulturkollektiven?
Im 20. Jahrhundert ging es ja – in der Sowjetunion, in Italien, in Deutschland – gerade um Kollektivhochleistung. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – Das ist die Maxime der Kulturen. Und die anschließende Frage wäre, wie man nach einem solchen Konzept überhaupt zu derartiger Hochleistung gekommen ist – und zwar über Jahrtausende hinweg. Wie fanden die höchstrangigen, bestinformierten, best ausgebildeten Künstler*innen und Wissenschaftler*innen des 20. Jahrhunderts Interesse an den Arbeitsresultaten von diesen Analphabet*innen?
Das zu klären und weltweit darzustellen wäre die Aufgabe eines Humboldtforums: 400-500 Jahre alten Arbeitsergebnisse der Weberinnen vom Kaspischen Meer neben einem Gemälde von Rothko, einer Hochleistung der bildenden Kunst im Westen der 1950er Jahre. Und das nicht nur im Bereich der Kunst, sondern ebenfalls in der Medizin, im Deichbau, bei Bewässerungsanlagen und vielem mehr. Diese beiden Fragen zu behandeln, scheint mir insbesondere heute als spannend, wo es wieder darum geht zu sagen, man hat sich kulturell, kulturpolitisch und wirtschaftlich Kollektiven zu unterwerfen.
Herr Brock, haben Sie vielen Dank.
Bazon Brock, Denker im Dienst und Künstler ohne Werk, ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Weitere Professuren an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965–1976) und der Universität für angewandte Kunst, Wien (1977–1980). 1992 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Eidgenössisch Technischen Hochschule, Zürich und 2012 die Ehrendoktorwürde der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 2014 bekam er die Honorarprofessur für Prophetie an der HBKsaar, Saarbrücken und 2016 wurde ihm der Von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal verliehen. 2017 erhielt er das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse. Er entwickelte die Methode des »Action Teaching«, in dem jeder Satz zur Bühne wird. Von 1968 bis 1992 führte er in Kassel die von ihm begründeten documenta-Besucherschulen. Von 2010 bis 2013 leitete er das Studienangebot „Der professionalisierte Bürger“ an der HfG Karlsruhe. Rund 3000 Veranstaltungen und Aktionslehrstücke; zuletzt u.a. „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ (2006, in elf Museen). 2011 gründete er die Denkerei in Berlin als „Institut für theoretische Kunst, Universalpoesie und Prognostik“, und dem Schwerpunkt „Arbeit an unlösbaren Problemen“. Seit 2019 findet diese als Denkerei mobil an wechelnden Orten statt.
Die Petition der Initiative Schlossaneignung kann hier mitgezeichnet werden.