vonChristian Ihle 25.01.2011

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„Thriller leben von plötzlichen Wendungen. So unerwartet, wie die Szene, in der sich die Rätsel in Stieg Larssons „Verblendung“ aufhellen, kam ein Überraschungsmoment allerdings selten: Knapp vierhundert Seiten lang versucht der Journalist Mikael Blomkvist eine brauchbare Spur zu finden, die ihn weiterbringt auf der Suche nach der seit Jahrzehnten verschwundenen Industriellentochter Harriet Vanger. (…)
Da kommt seine Tochter Pernilla zu Besuch, schaut einmal auf einen Zettel, der über Blomkvists Schreibtisch hängt – und präsentiert ihm, ohne es zu ahnen, die Lösung fast aller Rätsel. Kluges Kind! Der Pisa-Vorsprung der Skandinavier zeitigt eben auch kriminalistische Folgen. Dass Blomkvist den von Pernilla beiläufig bei der Verabschiedung auf dem Bahnsteig hingeworfenen Halbsatz überhaupt zu deuten weiß, kann dabei fast schon als eine weitere Meisterleistung der Dechiffrierkunst gelten. Der für die Aufklärung des Falls entscheidende Moment ist eine der zentralen Konstruktionsschwächen von Stieg Larssons Buch – warum hunderte Seiten Vorgeschichte und hunderte Seiten Auflösung, wenn es so einfach geht?
(…)
Die Fernsehfassung der „Millennium“-Trilogie ist kein director’s cut, anders als beispielsweise in Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now Redux“ gibt es keine Szenen, die der Geschichte einen neuen Reiz verleihen. Die Macher des Sechsteilers haben lediglich das von der Wissenschaft künftig als Larsson-Paradoxon zu bezeichnende Axiom, das den drei Büchern zu Grunde liegt, konsequent umgesetzt: größtmögliche Ausführlichkeit bei größtmöglicher Kürze. Auch in der verfilmten „Verblendung“ passiert sehr viel und sehr wenig zugleich.
(…) Schon im Buch schildert Larsson Nebensächlichkeiten mit einer Akribie, die einer Stasi-Akte würdig wäre: „Seine Kleider aus der einen Tasche hängte er in den Kleiderschrank in der Schlafkammer. Die Toilettenartikel räumte er in das Minibad. Dann nahm er sich den Koffer mit den Rollen vor. Aus ihm nahm er Bücher, CDs, einen CD-Player…“

Da fragt man sich, wie es weiter geht. Und Larsson gibt Auskunft: „Er stellte die Bücher und CDs ins Bücherregal.“ (…) Im Roman ist Blomqvist ein moralisch aufrichtiger Starjournalist und sexuell höchst verführerischer Über-Lover, dem auch ein verheirateter Mann seine Frau mit größtem Verständnis abtritt – geradezu die unfreiwillige Karikatur dessen, was der Autor wohl selbst gern gewesen wäre. Im Fernseh-Sechsteiler bleibt Blomqvist so blass wie seine Geliebte Erika Berger oder sein Auftraggeber, der Millionär Henrik Vanger. Das korrespondiert mit der unbeholfenen Machart vieler Szenen. Ob in der Redaktion mit Sekt angestoßen wird oder eine alte Frau ihre Fotoalben herauskramt – sobald die Regie das Tempo drosselt, wirkt „Verblendung“ wie ein Raffaello-Werbespot in düster: aufgesetztes Gelächter, hölzerne Dialoge, ungelenke Bewegungen; das aber mit viel Elan.“

(Sebastian Hammelehle im SPIEGEL)

Inhaltsverzeichnis:
* Die ersten 300 Folgen Schmähkritik
* Wer disst wen?

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