Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
1968, ein Jahr vor der Gründung des März Verlags war ich im Darmstädter Melzer Verlag Verlagsleiter, Cheflektor und Hersteller in einer Person. Da fiel es leicht, Bazon Brock eine eilige Bitte zu erfüllen. Er wünschte sich eine SetCard, wie sie Models haben. Aus dieser Idee entstand als Schnellschuß kurz vor der Buchmesse die Broschüre: ›Bazon Brock, was machen Sie jetzt so?‹. Inzwischen wurde dieser Titel zu einem antiquarischen Rarum.
Damit nicht genug, Bazon hatte noch andere Ideen. Eigentlich wollte ich, wie jedes Jahr zur Buchmesse auf dem Melzer-Stand Großfotos von Autoren und Buchumschlägen aufziehen. Jetzt mußten es ›Literaturbleche‹ – Brocks letzte Aktion vom Mai 1968 – in der Manier von Hinweis- und Verbotsschildern sein, die er in der Galerie Patio ausstellte und in Frankfurt aufhängte. Zum Beispiel baumelte unter dem Straßenschild Freiherr-vom-Stein-Straße der Blechtext von Brock: »Der Tod muß abgeschafft / werden, diese verdammte / Schweinerei muß aufhören. / Wer ein Wort des Trostes / spricht, ist ein Verrräter / Bazon Brock.« An einem Baukran unter der profanen Warnung: »Der Aufenthalt / unter der angehobenen Last / und im Schwenkbereich / der Drehbühne / ist verboten. / Lebensgefahr!« hing sein Literaturblech: »alles passt zueinander / alles passt übereinander / nichts rutscht / alles sitzt vollendet / bazon.« Einen anderen Text hatte ich mir einfallen lassen: »Was heute läuft / kann man mit dem Stock dran fühlen / Melzer.«
Bazons Werk kam an die Wand, mit meinem wurde der Fußboden belegt. Beide Bleche wurden in der nötigen Anzahl geprägt. Der Stand sah interessant aus! Vor allem war es komisch, wenn Leute die roten Blechschilder betraten. Dann knackte es, und sie erschraken. Außerdem hatte Bazon noch ein Objektbuch hergestellt, das stand vor der Messekoje. Auf zwanzig Lochplatten, einen Meter hoch, die in einer Führungskonsole hingen – solche Ständer findest du in Eisenwarenhandlungen zur Präsentation von Kleinteilen –, hatte er jeweils einige Seiten der ›Was machen Sie jetzt so‹-Broschüre geklebt, dazu Gegenstände aus seinem persönlichen Besitz: eine Brille, Zigarettenkippen, eine Unterhose, Socken … Sachen, die man einem Suchhund zum Schnüffeln geben würde. Natürlich hatte die Unterhose auch den dezenten gelben Fleck. Eben ein Ready-made, in dem man blättern konnte wie in einem großen Buch.
Das Kunstwerk stand bis 1973 im Keller meiner Frankfurter Wohnung, Bazon hatte es nicht abgeholt. Als ich nach dem Konkurs des März Verlages Kunst, Antiquitäten und meine Bibliothek verkaufen mußte, kam auch der Antiquar Horst Nibbe aus Köln. Er nahm so viele Olympia-Press-Bücher mit, wie in seinen Caravan gingen. Erst kurz vor der Abreise entdeckte er das Brock-Buch im Keller und kaufte es für fünfhundert Mark. Ein gutes Geschäft, das Objekt wäre heute mindestens zehntausend Euro wert. Aber leider ist ihm das Schicksal der Beuysschen Badewanne widerfahren: Der Antiquar hatte seine Karre so mit Pornos vollgeladen, daß er die Lochplatten nebst Ständer bei einem Freund in Wiesbaden unterstellte – ebenfalls in einen Keller. Bald darauf inspizierte der Wiesbadener Hausmeister den Abstellraum, schrie »Ekelhaft!«, als er die getragene Unterhose entdeckte, und warf »den Dreck« weg. Der arme Nibbe erzählt mir die Geschichte dieses Verlustes immer wieder kummervoll seufzend, wenn wir uns mal wieder sehen, wie zuletzt sahen wir uns bei der Vernissage der POP-Ausstellung in Köln. (JS)
Für die Zeit, in der die Leihgaben bei in Berlin an den Wänden fehlen, hat uns der Fotograf Martin Eberle einige Arbeiten ausgeliehen. Diese werden wir in den nächsten Wochen in einer ›blog exhibition‹ vorstellen, kontrastiert von unseren Kölner Exponaten.
Das rote Melzer-Blech haben wir für die Dauer der Ausstellung in Köln mit Martin Eberles Foto aus seiner Fotosequenz ›nature morte‹ getauscht.
Aus der Arbeit natur morte: Ohne Titel, 41 x 48 cm. Color Print auf Alu gerahmt. Auflage 3 + 2 Artist print
Das Motto von natur morte lautet: »Mit den drei Fackeln, die ihn in seinem Studium der Natur unablässig leuchten, nämlich Beobachtung, Gefühl und Vernunft, gibt der Künstler Erscheinungen wieder, die uns ins Träumen bringen, schlichte Gegenstände, die uns rühren, Schauplätze, die uns durch ihre kühne Silhouetten erstaunen und erschrecken […] Ein vollkommener Künstler ist, wer mit dem besten Geschmack in der Natur auswählt. Früher hieß es, die Natur wiedergeben. Heute hingegen: in der Natur auswählen.« C. Nègre, La Lumière, Paris 1851
Zur Kölner Ausstellung ›Außerordentlich und obszön. Rolf Dieter Brinkmann und die POP-Literatur‹ haben wir zahlreiche Bilder, Fotos und andere Materialien eingeliefert. Dem MÄRZ Verlag ist in der Ausstellung ein eigener Raum gewidmet.
Das Plakat zur Ausstellung sowie die begleitenden Drucksachen entwarfen Barbara Kalender und Jörg Schröder. Ausstellung: Kunsthaus Rhenania, Bayenstrasse 18, 50678 Köln, vom 29.09 – 19.11.2006, Freitags: 18 – 22 Uhr, Samstags und Sonntags: 12 – 18 Uhr. Siehe dazu die Besprechung von Wolfgang Frömberg.
Vita Martin Eberle: Geboren 1966 in Augsburg, Studium (Fotodesign) an der FH Dortmund, Mitbetreiber der Galerie berlintokyo in Berlin, Mitarbeiter Erratik Institut Berlin und bei PAKT – Zeitschrift für Fotografie und Medienkunst, Lehrauftrag Fotografie am Fachbereich Design der FH Potsdam, zahlreiche Ausstellungen, zuletzt: 2003: Haus am Waldsee, Berlin; 2004: KunstWerke, Berlin und Neue Dokumente, Berlin; 2005: Frankfurter Kunstverein, Frankfurt; 2006: General Public/Club Transmediale, Berlin. Buchveröffentlichung: ›Temporary Spaces‹. Martin Eberle (Fotos), Heinrich Dubel (Text) dokumentieren in ihrem Buch ›Temporary Spaces‹ das Design des nomadischen Clublebens in Berlin-Mitte.
(Copyright für die Abbildungen: Jörg Schröder und Martin Eberle, sonst BK / JS)