Der Bär flattert in südöstlicher Richtung.
Das Schöne am Sommerloch ist, daß jetzt die Belege mit unseren Beiträgen eingehen, weil ja Anfang Oktober die Buchmesse stattfindet und langsam die Herbsttitel fertig werden. So trudeln jetzt Texte ein, die wir vor langer Zeit abgeliefert und längst vergessen hatten.
Letzter Eingang das ›Frankfurtmainbuch‹ im Verbrecher Verlag, herausgegeben von Werner Labisch und Jörg Sundermeier mit Texten und Bildern von Anja Becker, Christian Bartz, F.W. Bernstein, Barbara Bollwahn, Tom Combo, Sarah Diehl, Steffen Falk, Oliver Grajewski, Caroline Hartge, Claudia Honecker, Meike Jansen, Barbara Kalender, Susanne Klingner, Maximilian König, Izy Kusche, Frank Lähnemann, Holger Lübkemann, Julia Mantel, Thomas von der Osten-Sacken, Oliver M. Piecha, Rattelschneck, Jana Schmidt, Jörg Schröder, Martin Sonneborn, Jan Süselbeck, Thomas Uwer, Linus Volkmann, Ambros Waibel, Klaus Walter und Georg Weerth.
Wir bringen als Teaser unseren Beitrag:
Freiheit für Meysenbug!
Ich fuhr zur PEN-Jahresversammlung, das Tagungsthema hieß ›Wer hat Angst vor Pornographie?‹. Horst-Dieter Ebert vom ›Spiegel‹ hatte mir den Tip gegeben, dort aufzutauchen, ich war bis 1971 in Sachen Pornographie manchmal auch als Lobbyist tätig, denn es ging immer noch um deren ›Freigabe‹. Die Meistersingerhalle war überfüllt, die Leute hockten auch auf dem Boden, die Diskussion mußte in die Wandelgänge übertragen werden. Präsident war Heinrich Böll, und auf dem Podium saßen Walter Jens, Werner Ross, mein ehemaliger Französischlehrer aus Bonn, und einige andere unentwegte Debattierer. Aus dem Saal sollte mitdiskutiert werden. Ebert hatte für uns einen Platz in der ersten Reihe reserviert, neben uns saß Gabriele Henkel, die sich in der Bewegungszeit in jedes Kulturereignis einmischte, das irgendwo en vogue war. Es konnte gar nicht links und schrill genug zugehen, bis ihr Konrad solche Aktivitäten strikt verbot. Sie gab sich natürlich nicht mit irgendwelchen Straßenlinken ab, es mußte schon die Creme sein, Daniel Cohn-Bendit hinten und vorn, als er in seinem Zenit stand, untergehakt und Küßchen, Küßchen. Mein Gott, wie diese aufgescheuchten Hühner immer rummachen mit allen, die gerade in sind, immer umweltverträglich wie ihr ›Persil‹. Wenn morgen Idi Amin angesagt ist, dann sitzen sie bei dem auf dem Schoß, so wie Sebastian von Johnston seine Mutter bei Görings in Karinhall beschreibt.
Auch während der Politbuchmesse 1968 spielte Gabriele sich auf, als Alfred von Meysenbug festgenommen wurde wegen Randalierens, die Massen wogten in den Messehallen wegen dieser drei sistierten Genossen, und im ›Hessischen Hof‹ wurde eine Protestveranstaltung abgehalten, zu der wir in die Lobby dieses Luxushotels drängten, dort führte Fritz J. Raddatz das große Wort, Inge Feltrinelli an seiner einen, Gabriele Henkel an seiner anderen Seite. Dem Chefportier wurde es zuviel, weil immer mehr abenteuerlich gewandete Protestler in Lederjacken und Hippiezuppeln in das Edelhotel drängten. Er nahm Frau Henkel diskret zur Seite, die aber krähte: »Das sind alles meine Gäste!« Worauf der Mann mit den gekreuzten Schlüsseln am Revers nicht mehr so diskret sagte: »Dann empfangen Sie bitte Ihre Gäste an einem anderen Ort, gnädige Frau.« Sie blaffte zurück: »Was erlauben Sie sich! Wissen Sie nicht, wer ich bin? Mein Mann und die Henkel AG …« »Es tut mir leid, gnädige Frau, ich weiß sehr wohl, wer Sie sind, aber auch Sie genießen in diesem Haus keine Sonderrechte. Ich muß Sie bitten, das Hotel samt Ihren Gästen sofort zu verlassen.« Er schmiß sie regelrecht raus.
Nie hat mir ein Hotelangestellter mehr imponiert, nie habe ich eine Society-Henne derart aufgelöst gesehen. Sie bekam hektische rote Flecken in ihrem Ledergesicht, die schienen sogar durch ihr millimeterdickes Make-up. So etwas war ihr bestimmt noch nie passiert, dieser Gabriele Henkel, geborene Hünermann. Ja, so isses, ich kann es nicht ändern, sie ist eine geborene Hünermann. Der Vater war Leiter … – nein, nicht des ›Wienerwald‹, sondern schon Chefarzt der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung im Marienhospital. Keifend wie ein Marktweib stob Gabriele aus dem ›Hessischen Hof‹, und Raddatz wieselte hinterher.
Die Protestversammlung wurde daraufhin ins Kolbheim im Westend verlegt, dort, am Beethovenplatz, wohnten in schmalen Zellen linke Studenten. Es war eine der Brutstätten des SDS, auch Hans-Jürgen Krahl residierte dort. Tatsächlich folgten die meisten Verleger uns an diesen Ort, es ging darum zu beschließen, die Messe zu boykottieren und Meyse sowie die beiden anderen gefangengehaltenen Genossen freizubekommen. Sie befanden sich noch in Gewahrsam der Frankfurter Polizei, und da die Zuständigkeit dafür beim SPD-Oberbürgermeister Brundert lag, war die Parole im Kolbheim: Massenhaftes Go-in der internationalen Verlegerschaft vor Brunderts Wohnhaus am Lerchesberg! Im Tagesraum des Kolbheims wurden die Tische zusammengerückt, an der einen Kopfseite des so entstandenen langen Konferenztisches präsidierte Krahl. Er hatte bei der nachmittäglichen Demonstration gegen die Abschiebung des Iraners Ahmad Taheri einen Schlag mit dem Gummiknüppel über die Birne gekriegt, und da er fast schon eine Pläte hatte, hinterließ dieser Schlag eine dicke blaue Beule. Wenn du die Augen etwas zusammenkniffst, sah es aus, als hätte er einen alten französischen Stahlhelm auf, diesen mit dem Wulst wie bei einem Feuerwehrhelm, ein Relikt aus den Heldentagen, als man sich noch gegenseitig die Köpfe einschlug.
Hans-Jürgen Krahl entwickelte trotz seiner Beule eine Meyse-Befreiungsstrategie, er war auch für eine Demonstration vor dem Haus des Oberbürgermeisters. Es nahmen ziemlich viele ausländische Verleger aus England, Amerika, jüdische Verleger wie Marion Bojars, die Leute von Grove Press und Phaidon teil, so etwa vierzig wollten mitprotestieren, dazu ein paar Holländer, Spanier, eine schöne Liste mit klingenden Namen aus der Verlagswelt. Wir hatten an diesem Tag über dreihundert Leute zusammengebracht, die dafür waren, die Messe zu boykottieren, also zu schließen. Jetzt forderten Bernward Vesper, Renate Gerhardt, Udo Heiland und ich wegen der Meysenbug-Eskalation dies erneut. Krahl verfolgte eine andere Strategie: »Wir haben das Hausrecht auf den Straßen! Jetzt den Protest massenhaft in die Messehallen tragen!« Wegen der Ausländer wurde auf englisch verhandelt, Raddatz in einem Glencheckanzug war als Stutzer-Danton auf den Tisch gesprungen und redete gegen das Bürgermeister-Go-in in seinem perfekten Volk-und-Welt-Verlags-Englisch, etwas mecklenburgisch gefärbt.
Udo Heiland und mir ging es aus PR-Gründen um eine möglichst große Anzahl von internationalen Verlegern vor dem Haus des Oberbürgermeisters. Raddatz, dieser Fatzke im Glencheck mit seinem gespreizten Englisch brachte es aber fertig, so lange zu filibustieren, bis unsere Sympathisanten die Lust verloren und bereits auf die Uhr schielten. Krahl hatte einen Adlatus, der ständig besoffen war, zwar war auch Krahl immer blau, aber dabei doch ziemlich klar, während sein germanischer Untermann – ein relativ bekannter Frankfurter Linker und heute ein relativ bekannter Frankfurter Grüner, ein Blubberkopf mit weißblonden Haaren – voll die Hefe hatte. Damit nicht genug, hatte er vermutlich ein altsprachliches Gymnasium besucht, denn er lallte, kaum war wieder eine Raddatz-Phrase verklungen: »I sink, siss fairy mast bi glost!« Also auf solchem Heinrich-Lübke-Niveau spielte sich diese Kolbheim-Konferenz ab.
Kein Wunder, daß sich schließlich die Verlegerinnen und Verleger, Antifaschismus hin oder her, zu ihren Empfängen ins Interconti verdrückten und zum Schluß von den vierzig, fünfzig Leuten nur noch Rob van Gennep, Renate Gerhardt, Udo Heiland, Carmen Balcels, Bernward Vesper und ich übrigblieben. Halt, eine Redakteurin von ›Elle‹ war noch dabei, Ruth Henry. Dieses Fähnlein der sieben Aufrechten fuhr in drei Wagen zum Lerchesberg. Dort war bereits ein Wasserwerfer aufgefahren, sie hatten halt Spitzel. Aber es begleiteten uns drei Fernsehteams, eins aus Österreich, eins aus Holland und natürlich eins vom Hessischen Rundfunk, die bauten ihr Licht auf, fünfzehn Teamleute kamen auf sieben Protestfiguren, machten mit grellem Halogen die Nacht zum Tage. Wegen dieser drei Fernsehteams wurde nicht gespritzt, wir durften Schellemännchen machen und durch die Gegensprechanlage brüllen: »Brundert, komm rauuuus!« Giftig meldete sich die Haushälterin: »Der Herr Oberbürgermeister ist nicht zu sprechen!« » Brundert, komm rauuuus! Freiheit für Meysenbuuuug!«
Grotesk, aber so war es. Ob es was gebracht hat? In der Presse sah unsere Aktion bombastisch aus: »Internationale Verleger fordern ultimativ die Freilassung der SDS-Demonstranten.« Die drei wurden auf freien Fuß gesetzt, das wäre sicher auch ohne unsere Aktion passiert. Am nächsten Tag ging es auf der Buchmesse weiter mit Resolutionen und Flugblättern, da saßen die Verleger wieder in ihren Ständen und gaben bereitwillig Unterschriften. Inzwischen waren vierhundert Namen zusammengekommen. Die Kuriere rasten vom Messerat zur Buchmesseleitung und zurück. Und Alfred von Meysenbug, genannt Meyse, mit dem schmalen blonden Schädel und der runden Goldrandbrille bewegte sich in den wogenden Massen der Protestler wie Jesus über den Wassern.
(Aus der 10. Folge von ›Schröder erzählt: Kleine Opfer‹)
(BK / JS)