Es ist dunkel, wir sehen also nicht, wie der Bär flattert.
Eigentlich wollten wir in der vergangenen Woche nur an der ›Schröder erzählt‹-Folge ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹ arbeiten. Wir hatten also den festen Vorsatz gefaßt, uns von nichts ablenken zu lassen. Um mal zu zeigen, was uns während einer Woche so auffällt und aufhält, wenn man eigentlich am Text arbeiten will, hier unsere Tagebuch-Notizen:
6. März: Martin Eberle fotografiert regelmäßig die Frühjahrs- und Herbstkollektion des Brillen-Avantgardisten ic! und braucht zu diesem Zweck Locations, außen und innen. Für seine aktuelle Session bat er uns für ein paar Stunden unser Dachstudio nutzen zu können. Do, ut des. Martin fotografiert ab und zu uns sowie unsere schönen Dinge zum Künstlerlohn – das heißt um Gotteslohn.
Also rückte um zehn Uhr das Team an, Martin mit Assistentin, das Graphic-Design-Department von ic! in Gestalt von Anne Böttger (auch in Niederschönhausen geboren) mit ihrem Kollegen. Im Stundentakt erschien ein Brillenmodell, aber alle drei arbeiten nicht professionell als Fotomodell.
Das Fotoshooting lief erstaunlich problemlos ab, um 14 Uhr verschwand das Team zu Außenaufnahmen. Sie hatten sogar vorher aufgeräumt und dürfen also wiederkommen.
Dann Mittagessen und drei Stunden Redaktion an der neuen Folge von ›Schröder erzählt‹.
7. März: Am Vormittag ist Jörg auf der Suche nach ein paar Bogen Evergreen-Karton, den wir für die neue Sammelkassetten für ›Schröder erzählt‹ brauchen. Er telefoniert mit diversen kleineren Druckereien. Diese Sorte ist laut Benno Käsmayr von Maro-Druck ausgelaufen. Bernd Keller vom Antiquariat Trüffelschwein, der früher die Bestellkarten auf diesem Karton drucken ließ, will seinen Drucker Reiner Recke in Göttingen nach Restbeständen fragen. Barbara stellt zwei Fotos von Oldtimer in unser Blog, danach bereitet sie den Auszug aus dem Langgedicht von Paulus Böhmer für Samstag vor und ›Die Frau gehört mir‹. Nachmittags arbeiten wir wieder an ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹.
8. März: Redaktion von ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹.
9. März: Nach dem Frühstück wird Wäsche gewaschen, Müll runtergebracht, die übliche Hausarbeit. Einladung zum Kaffee bei Wolfgang Müller. Patricia und Martin Schmitz holen uns im Benz ab – der BVG-Streik hat auch Vorteile.
Etwa fünfzehn Leute sind in Müllers kleine Wohnung in Kreuzberg gekommen. Wolfgang hatte einen Mohnkuchen nach Mutters Rezept gebacken – sehr gut –, aber der ultimative Höhepunkt war die Rumtorte des Meisterpâtissiers Dirk Schünemann. Später machte er gemeinsam mit Matthias Mergl noch Käse-Blätterteigtaschen. Als dann ein bißchen Prosecco geflossen war, wurde es munterer. Wir amüsierten uns über Wolfgangs ältesten Fan, die hundertjährige Irma Reinhold, begleitet von Reinhard Wilhelmi, der die alte Dame auf burschikose Art rührend betreut. Als Frau Reinhold nach Greisinnenart mehrfach darauf bestand, daß der noch warme Blätterteig im Backofen noch einmal aufgebacken werden müsse: »So wie ich auch immer die Croissants aufbacke«, sagte Reinhard zur Seite – damit die alte Dame es nicht hören konnte –: »In ihrem Backofen wird schon lange nichts mehr gebacken, da liegen Hausschuhe und Einkaufstaschen drin. Den Ofen habe ich abgestellt.« Reinhard Wilhelmi hat als Darsteller, Texter und Sprecher in Filmen der ›Tödlichen Doris‹ mitgewirkt, u. a. hat er in ›fliegt schnell – laut summend‹ von Wolfgang Müller mitgespielt. Dank des Streiks Rückfahrt in Patricias Benz, sie braucht die große alte Kutsche, weil sie auf dem Land (bei Rostock) als Zahnärztin arbeitet.
10. März: Redaktion von ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹.
11. März: Barbara arbeitet weiter an der Transkription von ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹. Jörg geht gleich nach dem Frühstück zur Routineuntersuchung bei seiner Kardiologin. Während sie den Ultraschallkopf auf Jörgs Brustkorb bewegt, erzählt die Ärztin, sie habe im ›Freitag‹, die Kolumne von Annett Gröscher über den Spaziergang in Niederschönhausen gelesen. Dann fragt sie Jörg, ob er das Buch von Florian Havemann gelesen hat. Jörg versucht der Ärztin in Kurzfassung etwas über die Havemania zu erklären. Er kennt ihn gut, hat 1979 – auf dem Höhepunkt der März-Verkaufserfolge bei Zweitausendeins, Vespers ›Reise. Ausgabe zweiter Hand‹ war gerade erschienen – sein Buch ›Auszüge aus den Tafeln des Schicksals‹ verlegt. Der Titel war in der Herstellung extrem teuer und wurde ebenso schlecht verkauft. Die Ärztin meinte, Florian hätte unbedingt wegen seines Vaterkomplexes eine Psychoanalyse gebraucht. Jörg erklärte ihr: »Der arme Junge litt bereits in der Jugend unter galoppierendem Genieirrsinn. Dabei handelt es sich um einen in der DDR sehr verbreiteten Größenwahn der Eliten, der im Volksmund treffend genannt wird: ›Adel ohne Titel‹. Diese Krankheit ist unheilbar und klingt auch im Alter nicht ab.« Jörgs Kardiologin hätte sich über diese Thema gern noch länger mit ihm unterhalten, aber die nächsten Patienten warteten. Jedenfalls machte sie ihm Mut: »Wenn ich nicht genau wüßte, daß sie schwer herzkrank sind, würde ich es nicht glauben. Alle Werte sind bestens, auch der Zucker ist fast wieder normal. Nur auf dem Echo sehe ich einen kleinen Zacken …« Ihr Wort in Gottes Ohr.
Seit drei Wochen buddeln und schieben ein Kettenbagger und eine Planierraupe, beides eher Spielzeug-Baumaschienen, in der Nebenstraße herum. Wir hören das morgens von sieben Uhr an und beobachten den Fortschritt von unserer kleinen Dachterrasse, von hier aus sehen wir auch den Bär flattern.
Ein neues Luxuswohnhaus mit Tiefgarage soll gebaut werden. Vorher mußten sie allerdings die Halle einer Autoreparaturwerkstatt abreißen, darunter liegen die Kellermauern und das Fundament des von Bomben zerstörten Hauses. Jetzt sehen wir täglich etwas mehr von den Kellermauern des ehemaligen Wohnhauses, Jörg fragt auf dem Rückweg von der Kardiologin einen der beiden Bauarbeiter: »Warum holen Sie nicht einen großen Bagger und schachten die Baugrube in ein paar Tagen aus?« »Wir müssen doch uf die Blindjänger achten. Da drieben hamse beim Ausschachten ooch eenen jefunden«, er deutete in die Richtung eines neuen Lagerhauses, »ick passe uff wien Schießhund, wenn ick uff Metall komm.« Schöne Aussichten. Außerdem müssen noch die Fundamente der beiden Nachbarhäuser unterfangen werden, bevor die tiefe Baugrube ausgeschachtet wird, erklärt der Mann.
Bilder aus dem Bombenkrieg steigen Jörg auf, und wir unterhalten uns beim Mittagessen über die Ruinenlandschaften. Wie es sich so fügt, wenn man ein Thema am Wickel hat, kommen sofort neue Informationen oder Facetten hinzu. In diesem Fall war es die Einladung zu einer Veranstaltung im Brecht-Haus: ›Backfisch im Bombenkrieg‹.
Wir fuhren mit der S-Bahn bis zur Oranienburger Straße und liefen das letzte Stück, U-Bahn fährt noch immer nicht. Ende 1942 begann das 15-jährige Berliner Bürolehrmädchen Brigitte mit Stenografieübungen in einem kleinen Taschenkalender. Sie notiert alles, was sie bewegt: von pubertären Wünschen und Träumen, über Kinobesuche und Lektüren, Ärger mit der Mutter, den Arbeitsalltag, bis zu chronikartigen Schilderungen des Bombenkrieges. Zwischen Schwärmereien, regelmäßigen Kinobesuchen und Nächten im Keller geht der Krieg zu Ende. Anfang der 50er Jahre schrieb Brigitte dann die Notizen mit der Schreibmaschine ab, wiederum zu Übungszwecken. Danach verschwinden die Blätter für ein halbes Jahrhundert im Bettkasten, ehe sie die Autorin für ein Projekt der Herausgeber wieder hervorholt.
Die Autoren Barbara Felsmann, Annett Gröschner und Grischa Meyer haben die Aufzeichnungen kommentiert mit Bild und Dokumentationsmaterial angereichert. In der Lesung im Brechthaus zeigten sie die Materialien mit Powerpoint, so sah man ein Schnittmuster für eine Bluse, die aus dem ›Völkischen Beobachter‹ gemacht worden war. Abwechselnd lasen sie Textproben sowohl aus dem Originalmanuskript wie auch ihren Kommentaren. Nur selten wird man einen so guten Einblick in die Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus finden, wie in diesen schlichten unreflektierten Worten eines gutgläubigen BDM-Mädchens. Diese Leute, unsere Eltern und Großeltern, waren die wahren Wohlgesinnten. Wir können nur hoffen, daß ein Verlag diese Texte veröffentlicht. Die Illustrationen brauchen ja nicht unbedingt farbig zu kommen.
v.l.n.r.: Anette Handke (Mitarbeiterin des Literaturforums im Brechthaus), Barbara Felsmann, Grischa Meyer, Brigitte E. (verfaßte die Tagebuchnotizen als Teenager), Annett Gröschner
12. März: Redaktion ›Eitelkeit auf Eitelkeit‹. Nach dem Essen drehen wir eine Runde im Volkspark. Als wir vom Spaziergang zurückkommen, hängt ein Benachrichtigungszettel von UPS im Hauseingang. Bei Foto Kirsch nebenan hat der Zusteller zwei Pakete abgegeben, Absender: Uwe Husslein. Das Blechschild und die Pizza-Grafik mit dem Motarradfahrer sind wieder da, ohne Nachricht von ihm. Transportiert wurden sie nicht etwa von einer Kunstspedition, sondern von einem schlichten Paketdienst.
Was haben wir uns für Sorgen gemacht wegen des möglichen Verlusts der beiden Exponate, Jetzt, einen Tag nach der von unserem Rechtsanwalt gesetzten Frist , stehen die Arbeiten sang- und klanglos beim Nachbarn.
Wir erhielten auf unser Blog eine Reihe von Beileidsbekundungen, Nachrichten und Berichte von Leuten, die ebenfalls keine guten Erfahrungen mit dem Kölner Kurator gemacht haben. Vor zwei Jahren, bei der Ausstellung ›Außerordentlich und obszön‹, konnten wir uns über ihn nicht beklagen. Im Gegenteil, es klappte alles bestens, und wir haben ihn gegen die diversen schlechten Nachreden verteidigt. Warum jetzt dieses sonderbare Verhalten? Hatte der Mann sich schlicht übernommen? Was hat er sich dabei gedacht, sich seit dem 26. Februar bei uns nicht zu melden und uns derartig in Unruhe zu versetzen?
Unsere Wochenübersicht im Tagebuch wird nächste Woche fortgesetzt: Ein Frühstücksbesuch von Gunter Rambow / Eine Arte-Recherche / Doch eine Erklärung, warum das ›Literaturblech‹ in Köln vergessen wurde? / Eine Titelillustration für die nächste Folge / Eine Eloge auf ›Schröder erzählt‹ / Eine Lesung in der Botschaft der Republik Island
(BK / JS)