vonSchröder & Kalender 12.06.2008

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.

Wir Kinder hatten Angst vor den russischen Soldaten, jedoch nicht vor den russischen Kindern, den Kindern der Offiziere, denn die einfachen Soldaten lebten ohne Familie irgendwo in Kasernen. Es gab einige Knaben, die in diesen Kompanien mitmarschierten. Und es gab Vorsänger, nach deren Kopfstimmensolo fiel der rauhe Chor der anderen Soldaten ein. Diese Kinder in Uniformen, mit Orden behangen, marschierten manchmal mit, man erzählte sich, es seien die Söhne gefallener Offiziere, ich weiß nicht, was daran wahr ist.

Ein solcher kleiner Junge, er hatte eine Uniform an mit Stiefeln, so sieben, acht Jahre alt, kam eines Tages heran, näherte sich uns in seiner Sprache, als wir im Sandbombentrichter rumbaggerten. Wir hatten erst mal Angst vor der Uniform, verstanden kein Wort. Er hielt uns einen kleinen Ledersack hin, wir waren neugierig und guckten rein: ein ganzer Beutel voll Fünfzigpfennigstücke. In den ersten Tagen nach dem Umbruch hatte das Geld auf der Straße gelegen, auch gebündelt, die cleveren Leute klaubten es sich auf. Erst hatte es nämlich geheißen, das alte Geld wird wertlos, aber bald wußte man, es geht damit weiter – ein Brot Schwarzmarktpreis dreihundert, die Zigarette zehn.

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Der kleine Russe besaß also einen Beutel voller Fuffziger, ich nehme an, der Vater hatte zu Hause ein paar Eimer davon, wovon er seinem Sohn immer in das Säckchen abfüllte. Er kam danach fast jeden Tag zu uns, wir ließen manchmal sogar die Geldstücke von den Straßenbahnen 23 oder 199 plattfahren, die Grabbeallee/Bismarckplatz fuhren, es rumpelte so schön, und das Fünfzigpfennigstück war dann ein rundes Stück Blech von der Größe eines Fünfmarkstücks. Der Russenjunge durfte mitspielen, er brachte ja die Fuffziger, aber er hatte keine Sonderrechte. Wir haben zuerst kein Wort von dem verstanden, was er sagte, und er nichts von uns. Dank dieses Russenknaben haben wir unzählige Male ›Die Frau gehört mir‹, ›Die Spartakiade‹ und ›Woyzeck‹ sehen können, die beiden letzteren in russischer Sprache, die verstand er nun wieder.

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Mit den Fuffzigern konnten wir auch Pariser kaufen, denn noch spuckte sie der Automat im achteckigen gußeisernen Pissoir auf dem Bismarckplatz aus, wo man die Füße der Männer sah, die oben in die Pißrinne pinkelten. Berlinerisch hießen diese Bedürfnishäuschen ›Café Achteck‹, schwere Schwulenklappen in den zwanziger Jahren, wie ich später gelesen habe. Dort zogen wir Pariser und bliesen sie auf. Wir haben uns an der Reaktion, dem unterdrückten Lachen »pffü« und »mmmbbb«, dem Prusten der Erwachsenen gefreut, wenn wir mit unseren Schweinsblasen rumzogen. Natürlich wußten wir mit acht Jahren nicht, was man damit macht, wenn man Ficken nicht kennt, dann weiß man auch nicht, was zum Ficken dient. Wir haben die Dinger auch mit Wasser gefüllt und sie aus dem dritten Stock runtergesenkt, blasig platzte das vor den fluchenden Menschen unten auf der Straße, immer so zwei Meter vor ihnen, es spritzte gemein, und die Leute erschraken fürchterlich.

Mit noch einer Sauerei beschäftigten wir uns, mit dem Verkokeln von Filmmaterial, das wir bei Pirol abstaubten, einer kleinen, ehemals ›kriegswichtigen‹ Chemieproduktion, die Nitrolacke und Lösungen herstellte, die Sowjets nahmen sie deshalb sofort wieder in Betrieb. Das Filmmaterial kokelten wir in den Hausfluren der Häuser an, in denen wir wohnten, aber auch in fremden, es stank infernalisch und war bestimmt ziemlich giftig.

Mit der Zeit konnten wir uns mit Wladimir, so hieß der Knabe, verständigen, wir hatten nicht etwa Russisch gelernt, vielmehr entwickelten wir ein Kauderwelsch aus Erbsensprache, Berlinerisch und Russisch, eine ›Geheimsprache‹, die zu unseren Indianerritualen paßte. Diese Sprache erweiterte sich ständig, es war ein neues Spiel. Ich könnte mir vorstellen, wenn Linguisten bei diesen Sprachspielen hätten Mäuschen sein können, sie hätten ihre helle Freude daran gehabt. Weniger erfreut, vielmehr mit gelindem Entsetzen, reagierten meine Mutter und Onkel Siegfried auf die »Verwilderung« des Jungen: »Ick bin doch nu wirklich ne waschechte Berlinerin, aber sag mal, Siegfried, verstehst du den Jungen überhaupt noch?«

Wladimir blieb dann von einem Tag zum anderen weg. Wir wußten nur ungefähr, wo er wohnte, ganz nahe, in einer der kleineren Straßen hinten beim Schloß Schönhausen. Aber dort konnte man nicht hin, es war Sperrzone, gleich hinter Muckchens Schieberkneipe, Ecke Grabbeallee/Tschaikowskystraße gab es einen Schlagbaum mit zwei Posten.

(BK / JS)

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kommentare

  • Lieber Jörg,

    ich weiß nicht, warum ich so einen Narren gefressen hab an Deinen Kindheitsgeschichten aus Niederschönhausen. Auch die hier ist wieder besonders schön.
    Was wohl aus dem Wladimir von damals geworden ist? Ob er noch lebt? Wo er wohl lebt? Was er macht? Und ob er seinen Freunden vielleicht mal erzählt hat, wie er damals in Berlin mit den Jungs aus Niederschönhausen Fuffziger von der Straßenbahn hat plattfahren lassen?
    Herzliche Grüße
    HP

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