Der Bär flattert heute nicht.
Wer sich für das instinktive Zudrehen kleiner Fläschchen interessiert, sollte heute unseren Alltagsreport in der jungen Welt konsultieren:
In der Ringbahn auf dem Weg zum Zahnarzt, das alte Lied: Drei Tage hatte der Backenzahn gemuckert, jetzt spürte ich nichts mehr und überlegte, was ich dem Arzt sagen sollte. Dann las ich in der jungen Welt die Geschichte über Hitlers Leibwächter Rochus Misch, der mit Hilfe von rechten Verlagsvertrieben und Versandhändlern einen Bestseller gelandet hat. Daß solche Literatur in der Nationalzeitung und in anderen rechten Postillen propagiert und verbreitet wird, ist seit sechzig Jahren ein alter Hut. Neu ist, daß so ein Nazidreck in einem Imprint des ehemals seriösen Piper Verlag erscheint, der zur angesehenen schwedischen Bonniers Verlagsgruppe gehört.
Während ich über den Verfall der guten Sitten nachdachte, runzelte mein Banknachbar indigniert die Stirn. So wie der Mann aussah – vierzig, grauer Anzug, Krawatte, ordentliche Schuhe, aber nicht rahmengenäht, Laptoptasche – gehörte er zur mittleren Gehaltsklasse, die eben einen Menschen verachtet, der solch ein Kommunistenblatt liest.
Die Lage änderte sich schlagartig, als ein Fahrscheinkontrolleur auftauchte und den verwischten Stempel meines Nachbarn bemängelte. Der Mann mit der Krawatte war sich aber seiner Sache sicher: »Es ist das Problem der Bahn, wenn Sie den Stempel nicht lesen können, weil der Stempelautomat keine ordentlichen Ziffern produziert. Wenn ich die Fahrkarte noch einmal abgestempelt hätte, wäre sie ungültig.« Der Kontrolleur widersprach und wollte den Fahrschein einziehen. »Das kommt nicht in Frage! Ich gebe Ihnen den nur, wenn Sie mir einen Ersatzfahrschein ausstellen …« Ich mischte mich ein: »Ist mir auch schon passiert, daß der Stempel unleserlich war.« Jetzt zeigte sich der Krawattenmann dankbar für meine Solidarität, die Kommunistin war vergessen. Inzwischen war ich gar nicht mehr so sicher, ob der verwischte Stempel zufällig passierte. Vielleicht ein neuer Schwarzfahrertrick? Das Ticket schnell aus dem Stempelautomaten ziehen, damit sich die Daten verwischen, dann könnte man ja ewig mit dem Schein fahren. Der Kontrolleur forderte nun den Krawattenmann auf, mit ihm bei der nächsten Station auszusteigen, um seine Personalien zu ermitteln. Er widersprach, sie debattierten noch, als ich aussteigen mußte.
Der Zahnarzt lachte über die verschwundenen Schmerzen: »Das kennen wir. Nun machen Sie mal den Mund auf …« Auf der Heimfahrt schlenderte ein Obdachloser durch den Wagen. Er sah nicht aus wie die anderen U-Bahn-Bettler, eher wie Brad Pit, nur jünger und mit schwarzem Haar. Mit seinen schwarzen Jeans-Klamotten hätte er perfekt auf eine Anzeige von G-Star Raw Denim gepaßt. Aber der Mann war eben kein Modell, sondern durchsuchte die Ringbahn nach Leergut. Er entdeckte eine kleine Steige mit Schnapsflaschen, stellte sich damit an die Tür, schraubte ein Fläschchen nach dem anderen auf und schüttelte sich die Tropfen in den Rachen. Kurz vor dem nächsten Halt wandte er sich an mich und meinte gutgelaunt: »Man dreht die Dinger instinktiv imma wieda zu, obwohl se doch leer sind. Weeste, man dreht imma den Deckel wieder druff. Dit is‘ doch komisch, wa? Und imma is noch wat drin!« Ich mußte laut lachen, er lachte mit.
Am Innsbrucker Platz stieg ich aus, um noch schnell bei Lidl etwas einzukaufen. Der Laden war fast leer, an der Kasse legte ein etwa vierzigjähriger dunkelblau gekleideter Mann mit korrekt geschnittenem, kurzem Haar vier Milchtüten und eine Packung Cornflakes aufs Band. Die Kassiererin, etwa fünfundzwanzig und hübsch, hatte sich fürchterlich ordinär geschminkt. Zwischen dem Kunden und ihr entspann sich nun folgender Dialog: »Ich habe nur vier Euro in der Tasche. Wenn ich zuviel genommen habe, stellen Sie bitte eine Milch weg.« Ein gelbes BVG-Emblem prangte auf seinem V-Pullover, er war also ein Arbeitsbesitzer und kein Harzist. Sie scannte die Ware ein und sagte: »Jetzt sind wir drüber, ich storniere eine Milch.« Er griff in die Hosentasche, legte die Münzen in die Zahlschale, sah sie an und scherzte: »Ich lebe allein, brauche eigentlich eine Frau. Aber am liebsten eine reiche.« Die Kassiererin reagierte nicht auf die Anmache, zählte das Geld, legte es in die Kasse, gab ihm den Bon und sagte geschäftsmäßig: »Einen schönen Tag noch.« Er war enttäuscht, weil sie auf seinen Witz nicht reagiert hatte. Da sprang ich ein: »Ach, Geld ist doch nicht so wichtig!« Darauf die Kassiererin spitz: »Aber nur, wenn man genug davon hat!« Der BVG-Mann grinste zu mir rüber und ging. »Ich meinte doch nur«, sagte ich zur Kassiererin, »daß man bei der Liebe nicht aufs Geld achten sollte.« Plötzlich war sie zugänglich: »Stimmt! Ich will meinetwegen geliebt werden und nicht immer denken: Der hat mich nur wegen meinem Geld genommen.« Sie gab mir die Quittung und murmelte: »Aber ich hab ja sowieso keins.«
(BK / JS)