vonSchröder & Kalender 31.12.2010

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Wir wünschen allen unseren Bloglesern ein gutes neues Jahr!

Wie immer bringen wir in unserem Neujahrsgruß an die Freundinnen und Freunde das Zitat einer Literatin oder eines Literaten, welches uns im Laufe des Jahres bei der Lektüre in den Sofaecken auffiel. Dieses Mal haben wir den Silvesterbrief von Gustave Flaubert an George Sand ausgewählt:
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(Croisset,) Silvesternacht 1 Uhr (1. Januar 1869)

Liebe Meisterin,

warum soll ich das Jahr 1869 nicht damit beginnen, es Ihnen und den Ihrigen »gut und glücklich und mit vielen nachfolgenden« zu wünschen, das ist Rokoko, aber es gefällt mir. Und nun lassen Sie uns plaudern:

Nein, »ich vergälle mir nicht das Leben«, denn ich habe mich nie wohler gefühlt. In Paris hat man mich »frisch wie ein junges Mädchen« gefunden, und die Leute, die von meinem Leben nichts wissen, haben dieses gesunde Aussehen der Landluft zugeschrieben. Das sind die »idées reçues«. Jeder hat seine eigene Hygiene. Wenn ich keinen Appetit habe, ist trockenes Brot das einzige, was ich essen kann. Und die unverdaulichsten Nahrungsmittel wie grüne Äpfel und Speck beseitigen bei mir Magenbeschwerden. Und so fort. Ein Mann, der keinen gesunden Menschenverstand hat, darf nicht nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes leben.

Was meine Arbeitswut angeht, so vergleiche ich sie mit einer Flechte. Ich kratze mich unter Schreien. Es ist Lust und Folter zugleich. Und ich mache nichts von dem, was ich will! Denn man wählt seine Themen nicht, sie drängen sich auf. Werde ich je das meinige finden? Wird mir vom Himmel eine Idee zufallen, die in Übereinstimmung mit meinem Temperament steht? Werde ich ein Buch schreiben können, in dem ich mich voll und ganz hingeben kann? Ich habe in manchen Augenblicken der Eitelkeit den Eindruck, daß ich anfange zu ahnen, was ein Roman sein muß. Doch vor diesem (der im übrigen sehr unbestimmt ist) habe ich noch drei oder vier andere zu schreiben. Und bei meinem Tempo werde ich allenfalls diese drei oder vier schreiben. Ich bin wie Herr Prud’homme, der findet, daß die schönste Kirche die wäre, die den Turm des Straßburger Münsters und zugleich die Säulen von Sankt Peter, den Portikus des Parthenon, usw. hätte. Ich habe Ideale, die einander widersprechen. Daher rühren Verwirrung, Verzögerung, Ohnmacht.

Daß die »Klausur, zu der ich mich verdamme, ein Zustand der Wonne« sei, nein. Aber was tun? Sich mit Schnaps berauschen. Die Muse, so widerspenstig sie auch sein mag, verursacht weniger Ärger als eine Frau. Ich kann nicht beide miteinander in Einklang bringen. Man muß sich entscheiden. Meine Wahl ist getroffen. Bleibt die Frage der Sinne. Sie sind immer meine Diener gewesen. Selbst in der Zeit meiner saftigsten Jugend habe ich mit ihnen nur das gemacht, was ich wollte. Ich bin bald fünfzig, und ich habe nicht gerade unter ihrem Ungestüm zu leiden.

Diese Lebensweise ist nicht lustig, das gebe ich zu. Man erlebt Augenblicke der Leere und eines entsetzlichen Überdrusses. Aber sie werden mit zunehmendem Alter immer seltener. Ich glaube also, daß Leben ein Beruf ist, für den ich nicht geschaffen bin, und doch!

Ich bin drei Tage in Paris geblieben und habe die Zeit damit zugebracht, Auskünfte einzuholen und Wege für mein Buch zu erledigen. Letzten Freitag war ich davon so erschöpft, daß ich mich um sieben Uhr abends schlafen gelegt habe. Das sind meine tollen Orgien in der Hauptstadt.

Ich habe die Goncourts voll frenetischer (jawohl) Bewunderung für ein Werk mit dem Titel: ›Histoire de ma vie‹ von G. Sand gefunden, was bei ihnen mehr von Geschmack als von Gelehrsamkeit zeugt. Sie hatten sogar die Absicht, Ihnen zu schreiben, um Ihnen ihre ganze Bewunderung auszudrücken. (Dagegen fand ich … stupide. Er vergleicht ›Feydeau‹ mit Chateaubriand, bewundert sehr den ›Lépreux de la Cité d’ Aoste‹, findet ›Don Quijote‹ langweilig usw.)

Fällt Ihnen auf, wie selten der literarische Sinn ist? Die Kenntnis der Sprachen, die Archäologie, die Geschichte usw., all das müßte doch nützen, aber mitnichten! Die sogenannten aufgeklärten Leute werden in Dingen der Kunst immer unfähiger. Es entgeht ihnen sogar, was Kunst überhaupt ist. Die Anmerkungen sind für sie wichtiger als der Text. Sie legen mehr Wert auf die Krücken als auf die Beine.

Freundschaftliche Grüße an die Ihrigen und für Sie, teure liebe Meisterin, meine ganze Zärtlichkeit.

Gustave Flaubert, ›Briefe‹. Herausgegeben und übersetzt von Helmut Scheffel. Die Erstausgabe der Auswahl erschien 1964 im Henry Goverts Verlag, Stuttgart. Alle Rechte  ©  1977 by Diogenes Verlag AG Zürich.

(GF / BK / JS)

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