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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Niedstraße gegenüber des Johnson-Hauses. Foto: Barbara Kalender
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Vom Friedrich-Wilhelm-Platz geht die Niedstraße ab, und gegenüber der Hausnummer 14 holte Michael Bienert zum Kernstück seines Uwe-Johnson-Spaziergangs aus. In diesem Haus hatte die Familie Johnson im ehemaligen Wohnatelier des Künstlers Karl Schmidt-Rottluff unter dem Dach gewohnt und gearbeitet. Seine Frau war am Entstehen seines Werkes mehr als allgemein bekannt beteiligt, das erfuhren wir von der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Annett Gröschner.
Während des Aufenthalts der Johnsons in New York wohnte die von Hans Magnus geschiedene Dagrun Enzensberger, mit ihrem Freund Ulrich Enzensberger, dem jüngeren Bruder von Hans Magnus, in Johnsons Wohnung – also keineswegs ordentliche Kaufbeurener Verhältnisse. Ulrich hatte den Schlüssel zur Wohnung auch zu dem Haus in der Fregestraße, das Magnus gehörte.
Die Kommune I hatte also die Wahl, wo sie sich gründen wollte. Sie entschloß sich zur Niedstraße. Die Gründer waren: Fritz Teufel, Volker Gebbert, Dagmar Seehuber, Ulrich Enzensberger, Dagrun Enzensberger, Hans-Joachim Hameister, Dorothea Ridder und Dieter Kunzelmann. Rainer Langhans kam erst später dazu. Von den etwa fünfzehn Personen, die sich in der Silvesternacht des Jahres 1966/67 zusammen gefunden hatten, um zu beraten, ob sie ab sofort zusammenziehen wollen, waren also nur acht dazu bereit. »Rudi Dutschke lehnte unter gar nicht sanftem Druck von Gretchen dediziert das Konzept Kommune I ab und kündigte an, er wolle parallel zu uns eine Wissenschaftskommune aufbauen. Das haben wir sehr befürwortet, weil der Grundgedanke des Experiments ja war, dass ein Netzwerk verschiedenartigster Kommunen das Rückgrat der antiautoritären Bewegung bilden müsse«, schrieb Dieter Kunzelmann in seiner Autobiographie ›Leisten Sie keinen Widerstand!‹ (Transit Verlag, Berlin. Leider vergriffen)
Und noch einmal Kunzelmann: »Als bekannt wurde, dass der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Hubert Horatio Humphrey, am 5. April 1967 West-Berlin einen Besuch abstatten würde, stimmten wir sofort darin überein, dass dies der Anlass für unsere erste größere Aktion sein musste. Mir war klar – nach allem, was ich bislang an Erfahrungen über politische Happenings gesammelt hatte, dass unsere Aktion erstens in einem Schein-Angriff auf den Konvoi des Vizepräsidenten bestehen könnte und zweitens dieser Angriff so zu gestalten sei, dass er die interessierte Öffentlichkeit mehr zum Lachen brachte als Anlass für Furcht- oder Bedrohungsszenarios zu bieten. Es lag indes nicht in der Reichweite unserer Phantasie, dass interessierte Dritte aus unserer Happening-Planung ein Ereignis machen würden, das einmalig in der Geschichte der Protestbewegungen sein dürfte: Ein Nichtereignis wurde zum weltweit beachteten Spektakel, der Berliner Staatsschutz und die Springer-Presse produzierten einen geplanten Bombenanschlag auf den US-Vizepräsidenten. Die Ermittlungsbehörde konnte, wie sich bald herausstellte, den in höchster Alarmstimmung erschienenen Vertretern der Weltpresse statt einer Bombe nur Puddingpulver und Mehl als corpus delicti präsentieren. Wir selbst wurden bei den vorbereitenden Wurfübungen im Grunewald, einen Tag vor dem Humphrey-Besuch festgenommen und mussten wenig später unter dem Gelächter der internationalen Öffentlichkeit aus der Untersuchungshaft entlassen werden.«
Es kam, wie es kommen musste, Uwe Johnson erfuhr am Tag nach der Festnahme der Kommunarden durch eine Schlagzeile der ›New York Times‹, dass aus seiner Berliner Wohnung ein Attentat auf den Vizepräsidenten seines Gastlandes vorbereitet worden sei. Johnson, ohnehin an Paranoia leidend, rief seinen Nachbarn Gunter Grass an, dem er dessen »Friedenauer Landhaus« neben seinem Wohnhaus vermittelt hatte. Er bat ihn dringend sowohl Dagrun Enzensberger, als auch Ulrich und die anderen Kommunarden aus seiner Wohnung zu werfen. Johnson schrieb auch an Dagrun einen Brief: »4. April 1967 · Liebe Dagrun: Hier ist heute ein Dienstag, und diesen Brief wirst du bekommen am Sonnabend oder Montag, der Montag wird der 10. April sein, und am Sonnabend danach, dem 15. April, musst du unsere Wohnung verlassen und die Schluessel bei Frau Fucker abgegeben haben. Du solltest uns nicht sagen dass du vor deinem letzten Brief zwei lange Schreiben an uns gerichtet hast, denn es ueberfordert uns das zu glauben. Als wir dir unsere Wohnung ueberliessen, war es so gedacht dass keiner einen Schaden hat und du eine Unterkunft. Es war nicht so gedacht dass du der armen Frau Kaiser Wasser auf den Kopf laufen laesst; es war nicht so gedacht dass du uns fremde Leute, aus welch edlen Gruenden immer, bei uns beherbergst; es war nicht so gedacht dass deine Gaeste laermen und unsere Nachbarn belaestigen. Wir geben schamlos zu dass wir diese Wohnung behalten wollen, auch was darin ist, auch freundliche Beziehungen zu den Mietern rings um diese Wohnung (sic), und wir lassen uns das nicht lange beschaedigen. Wir haben uns eine Anstandsfrist darueber gewundert warum du in unserer Wohnung dich benimmst wie wir uns in deinen nicht benommen haben; danach bleibt uns nur uebrig zu begreifen dass du uns schaedigst, und deswegen musst du unsere Wohnung am Sonnabend, dem 15. April, verlassen und die Schluessel bei Frau Fucker abgegeben haben. Mit verstaendnislosen Gruessen Uwe · Elisabeth«
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Günter Grass tat Johnson den Gefallen, die versiegelte Wohnung der Puddingpulver-Attentäter mit Hilfe von Kriminalhauptmeister Heindke aus der Wohnung zu werfen.
Bericht der Kriminalpolizei, 8. April 1967:
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Die Kommune I musste umziehen, zunächst in eine Interimswohnung in der Kohlfurter Straße, dann in eine am Stuttgarter Platz. Im Erdgeschoß befand sich ein Nachtlokal mit Animierdamen, im Hochparterre ein Bordell, im ersten Stockwerk ein Bordell, im zweiten ebenfalls, darüber residierte die Kommune I und über ihnen ein weiteres Bordell.
Links das ehemalige Wohnhaus von Uwe Johnson, rechts das Friedenauer Landhaus von Günter Grass. Foto: Barbara Kalender
Im Haus Nr. 13 in der Niedstraße wohnen die Erbsen (im Vorgriff)von Günter Grass. Uwe Johnsonn hatte mit seiner Wohnung in der Niedstraße weniger Glück. Seine Schwägerin Jutta Schmidt zog dort ein, rauchte im Bett und kam ums Leben. Die Wohnung war nach dem Brand unbewohnbar.
(letzter Teil folgt morgen)
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(BK / JS)