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Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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In der letzten Folge von ›Schröder erzählt‹ mit dem Titel ›Die Zweite Natur‹ haben wir aus gegebenem Anlass eine Intervention zur Flüchtlingsfrage gebracht, die im Kreise der Subskribenten lebhaft diskutiert wird.
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In den letzten Tagen meines Klinikaufenthaltes hatte man mir eine Gipsschale am Bein verpasst. Endlich durfte ich das Bett verlassen! Allerdings konnte ich mit dem Klumpfuß nur mühsam stehen und noch schlechter laufen. Schon erstaunlich, wie beschwerlich es ist, sich nach drei Wochen Immobilität wieder ans Laufen zu gewöhnt. Mit einem Gehwagen schlich ich nun auf dem Flur entlang – »Lauftraining« hieß das. Dabei begegnete ich meist dem Libyer, der Mann tigerte ständig auf dem Flur auf und ab von einem Fenster zum anderen. Ich hatte ihn schon früher gesehen, wenn ich auf dem Weg zum OP-Saal im Bett an ihm vorbeigerollt wurde.
Sein Gesicht sah jetzt nach der Behandlung schon viel besser aus, die Hauttransplantationen waren gut gelungen. Das sagte ich ihm, er freute sich darüber, so kamen wir ins Gespräch. Zunächst erfuhr ich, dass er seine Verletzungen in einem Gefecht mit einem rivalisierenden Clan erlitten hatte. Er stellte sich als »Abd el-Latif« vor, war Offizier gewesen und wurde in Deutschland im Rahmen eines medizinischen Hilfsprogramms behandelt.
Gleich am Anfang unseres Gesprächs begann Abd el-Latif sich in Rage zu reden, weil die USA, Großbritannien und Frankreich sein Land überfallen und eine regelrechte »Crusade« geführt hätten. Die drei Nationen hätten es in ihrem Kreuzzug darauf angelegt, den Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi zu ermorden. Damit war für mich klar: Der ehemalige Offizier war ein Gaddafi-Mann gewesen. Und ich verkniff mir die Erwähnung der Terroranschläge gegen die Berliner Diskothek La Belle oder die Abstürze von Linienflugzeugen bei Lockerbie und über dem Niger. Denn zu interessant waren seine Argumente zur Verteidigung des Diktators: »Ihr im Westen habt Gaddafi nicht verstanden. Ihr habt gelacht, als er sich zum König der Könige von Afrika ernannte. Aber er wollte eine starke Afrikanische Union schaffen wie die Europäische Union. Er wollte wie Mao Tse-tung die Überbevölkerung eindämmen, das alles steht in seinem ›Grünen Buch‹.«
Abd el-Latif hielt mir eine Gardinenpredigt gegen die verfluchten USA in Gestalt der verbrecherischen Hillary Clinton, die nach der Ermordung Gaddafis lachend vor laufender Kamera gesagt hatte: »Wir kamen, wir sahen, er starb.« Als wir dieses Gespräch führten, war Gaddafi schon seit einem Jahr tot. Hillary Clinton musste als Außenministerin zurücktreten, weil sie Barack Obama zum Eingreifen in Libyen gedrängt hatte. Obama nannte später den Einsatz der US-Airforce gegen Libyen den »größten Fehler meiner Amtszeit« und inoffiziell war für ihn der Krieg eine »shit show«.
Während der Philippika des Libyers gegen die westliche Welt, zogen die Krankenschwestern die Köpfe ein und huschten im Flur an uns vorbei. Als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, erklärte mir der libysche Offizier: »Nur die Deutschen und die Russen haben uns verstanden …« Jetzt hielt er eine Lobrede auf den weisen deutschen Außenminister Guido Westerwelle, der gemeinsam mit Wladimir Putin versucht hatte, die UN-Resolution zu verhindern, welche den Militärschlag gegen Libyen legitimierte. Westerwelles Warnung, eine Intervention des Westens würde zu noch mehr Gewalt führen, kann man nachträglich nur noch beipflichten. Und wir müssen zugeben, dass dieser von den meisten – auch von uns – unterschätzte Politiker recht behielt.
Die grausame Konsequenz der falschen US-Politik ist das Desaster des »arabischen Frühlings« und damit die Entstehung des Islamischen Staates, der Syrienkrieg und die Flucht der Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten. Die Flüchtlingskrise hatte der afrikanische König der Könige jahrelang diktatorisch verhindert – sehr im Interesse von Europa. Und seit seiner Ermordung sterben die Menschen im Libyschen Meer – Tag für Tag, Monat für Monat, etwa sechzigtausend sind es in den letzten Jahren. Und seitdem brennt die arabische Welt.
Wir Europäer müssen endlich begreifen, dass in Afrika fünfzig Millionen Menschen auf gepackten Koffern sitzen. Sie wollen nach Europa und sei es um den Preis ihres Lebens, um der Misere in ihren Heimatländern zu entkommen, einem staatenlosen lebensgefährlichen Desaster wie in Libyen, der Angst vor der Terrormiliz Boko Haram im Norden Nigerias, dem Bürgerkrieg in Somalia, den tribalen Konflikten im Sudan – um nur einige der Gefahren für Leib und Leben zu nennen.
Aber es geht den meisten dieser Menschen tatsächlich nicht um politisches Asyl, sondern um die so genannten »wirtschaftlichen Gründe«: der gewaltige Jugendüberschuss und die damit verbundene Arbeitslosigkeit. »Youth bulge« heißt das extreme Bevölkerungswachstum in Horrorszenarien bei den Demographen. In den ärmsten und am schlechtesten entwickelten Ländern ist die Fertilitätsrate extrem hoch. Zum Beispiel gebären Frauen in Niger durchschnittlich 7,6 Kinder, in Somalia und Kongo 6, in Nigeria sind es 5,6. Bei solchen Jugendüberschüssen sind Verteilungskonflikte, Unruhen und Gewalt in jeder Form Legion. Frustration herrscht bei den gebildeteren urbanen Schichten, denn nur sie haben das Wissen und die Mittel zur Auswanderung, ohne Fachkräfte ist jedoch eine Entwicklung in den betroffenen Ländern unmöglich. Die Ärmsten kommen ohnehin nicht bis ans Mittelmeer, ihnen fehlen schlicht die Mittel, um die Schleuser zu bezahlen. All das passiert in Afrika trotz fünfzig Jahren Entwicklungshilfe. Womit sich erwiesen hat, dass Entwicklungshilfe sinnlos ist und niemals etwas bewirkt hatte, außer die Taschen der jeweiligen Potentaten zu füllen. Klaus Roth, der für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kenia und Tansania evaluierte, erzählte mir hanebüchene Geschichten über alle Formen der Bereicherung, und Jürgen Schimaneks ›Negerweiß · Deutsches Fernsehtraining in Afrika‹ spricht ebenfalls Bände.
Fortsetzung folgt
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Aus ›Schröder erzählt: Die Zweite Natur‹, 66. Folge, Kapitel VIII
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BK / JS