vonSchröder & Kalender 21.01.2019

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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Christiane Ensslin, Konfirmation März 1954. Das Foto entnahmen wir  dem Buch ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹ (s.u.)
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Christiane ist am 20. Januar in Köln mit 79 Jahren gestorben. Die Urnenbeisetzung findet zu einem späteren Zeitpunkt im engsten Familien- und Freundeskreis statt.

Zum ersten Mal hörte ich (JS) von Christiane, als sie 1977 für Franz Greno die Korrektur der Druckfahnen von Bernward Vespers Buch ›Die Reise‹ las, welches Greno für den MÄRZ Verlag herstellte. Etwa zur selben Zeit war Christiane Mitgründerin der EMMA, auf dem ersten Titelblatt schreiten vier entschlossene Frauen vorwärts.


v.l.n.r.: Christiane Ensslin, Alice Schwarzer, Angelika Wittlich und Sabine Schruff.

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Margarethe von Trottas Film ›Die bleierne Zeit‹ zeichnet das Leben der beiden Ensslin-Schwestern nach. Juliane (Christiane) ist aufmüpfig, Marianne (Gudrun)  eher still und angepaßt. Später läuft die Entwicklung  entgegengesetzt. Christiane verläßt das Elternhaus, macht eine Lehre als Vermessungstechnikerin, geht von Stuttgart nach Hannover und Goslar.

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v.l.n.r.: Christiane und Gudrun Ensslin

Gudrun lernte während ihres Studiums in Tübingen Bernward Vesper kennen. In Berlin verließ sie Bernward für Andreas Baader, ihr Weg in die RAF führte sie bis zu ihrem Tod in Stammheim. Während ihrer Haftzeit unterstützte Christiane  ihre Schwester solidarisch, davon künden Gudruns Briefe an die Schwester und den Bruder Gottfried. 2005 erschien im Konkret Literatur Verlag der Briefwechsel von Gudrun mit  ihrer Schwester Christiane und ihrem Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Alles über das  Buch ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹ findet man hier.

Im Vorwort schreiben die beiden Herausgeber: »Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter fallen wegen ihrer Verurteilung zu hohen Haftstrafen nicht unter die von der sozial-liberalen Regierung verkündeten Amnestie, die vielen Achtundsechzigern die Strafe für kleinere Demonstrationsvergehen erläßt und sie damit für den Reformismus zurückgewinnen will. Daß Andreas Baader und Gudrun Ensslin hier außen vor bleiben, war für sie ein Schlüsselerlebnis. Sie deuteten die Ächtung für sich als Ritterschlag, weil sie überzeugt waren, mit ihrer Militanz die Sollbruchstelle des Systems gefunden zu haben, welche die antiautoritäre Revolte vom revolutionären Kampf trennt.
Bei aller  Kritik an der RAF, die scheitern mußte, sollte der historische Kontext nicht unberücksichtigt bleiben: Anfang der  Siebziger Jahre herrschten in Spanien und Portugal Diktatoren, in Griechenland wütete eine faschistische Militärjunta, in Vietnam eskalierte der mörderische Krieg der USA, und 1973 wurde in Chile mit Unterstützung der USA eine demokratisch gewählte Linksregierung liquidiert. Dieser imperialistische Gesamtzusammenhang macht die Wut und den Haß derer verständlich, die dagegen eine antiimperialistische Front aufbauen wollten.« (Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin, Januar 2005)

Christiane ging einen anderen Weg als Gudrun, sie engagierte sich für die Frauenemanzipation, arbeitete bei Franz Greno als Korrektorin, Lektorin und Herausgeberin (Das Buch zum Film: Rosa Luxemburg von Margarethe von Trotta), schrieb 1987 den Aufsatz ›Alle Kreter lügen‹ für die Anthologie ›Der blinde Fleck‹. Zu dieser Zeit lernte sie ihren Lebensgefährten, den Sozialwissenschaftler Klaus Jünschke kennen, der als ehemaliges RAF-Mitglied damals noch seine Haft verbüßte und ebenfalls einen Betrag im ›Blinden Fleck‹ schrieb.

Klaus Jünschke wurde bald darauf nach sechzehnjähriger Haft begnadigt. Später arbeitete Christiane im Verband der Filmarbeiterinnen und danach, von 1992 bis 2003, als Archivarin im Hamburger Institut für Sozialforschung.

Während dieser Zeit engagierte sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin, der Journalistin Gita Ekberg in der Gefangenenarbeit von Santa Fu. 1993 erschien ihr ›Aktionshandbuch gegen Rassismus‹, und sie beförderte Hubertus Beckers Buch ›Die Niederlage der Gefängnisse‹.


v.l.n.r.: Jörg Hauenstein, Klaus Jünschke und  Christiane Ensslin. Foto: meaning media

Fast vierzig Jahre lang kümmerte sich Christiane um die Gefangenen: Sie ist Initiatorin des ›Komitees gegen Isolationshaft an politischen Gefangenen‹. Nachdem sie in Rente gegangen war, setzte sie die Gefangenenarbeit in Köln zusammen mit Klaus Jünschke fort und gründete den Verein ›Kölner Appell gegen Rassismus‹.

Ein Jahr lang sprach Klaus Jünschke mit zwanzig jugendlichen Strafgefangenen mit Migrationshintergrund in der Justizvollzugsanstalt Köln. Das Projekt des ›Kölner Appell gegen Rassismus‹ lief unter dem Titel ›Erzählwerkstatt‹. Christiane  transkribierte die Tonbänder und traf aus tausend Manuskkriptseiten eine Auswahl. Jörg Hauenstein wollte zunächst nur Fotos von der Innenarchitektur der Haftanstalt machen. Als er den Jugendlichen später die Bilder zeigte, wollten sie nun auch für das Buch fotografiert werden.

2007 stellten wir ›POP Shop‹ bereits in unserem tazblog vor:
1. Teil

und

2. Teil


Foto: Klaus Jünschke

 

In Abwandlung von Camus’ letzten Sätzen im ›Mythos des Sisyphos‹ sagen wir: Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Christiane als einen fröhlichen und unbestechlichen Menschen vorstellen.«

Wir trauern um Christiane.
Barbara und Jörg

(CE / GE / BK / JS)

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