vonSchröder & Kalender 02.07.2020

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

Mehr über diesen Blog

***
Der Bär flattert in östlicher Richtung.
***

Dies ist ein Text aus ›Schöder erzählt‹: An der Promenade steht alle paar Meter eine Bank, das gibt es in Berlins Innenstadt nicht mehr, dort werden die Bänke ständig verschleppt oder zerstört. Allerdings ärgerten wir uns über die orangefarbenen Abfallbehälter, die neben jeder Bank stehen, sie waren alle mit demselben Witz bedruckt. Für diese Allee hatten sich die Satirebeamten der Berliner Stadtreinigung »Kot d’Azur« ausgedacht. Na klar, jede Flaniermeile ist auch eine Hundestrecke, und die Hundehalter müssen mit Plastikbeutel-Fingern den Kot ihrer Lieblinge aufsammeln. Aber muss man die Promenierenden unbedingt mit der Nase darauf stoßen? Manchmal ist der berühmte Berliner Witz einfach nur zum Kotzen.


Alle Fotos: Barbara Kalender

***

»Kot d’Azur« blendeten wir aus und blickten rüber zu den zahlreichen Anlegestationen der Reederei Stern, vor denen sich morgens um zehn schon kleine Schlangen von anstehenden Gästen bildeten. Die Promenade endet in einem Rondell, das wie eine Bastei gebaut ist, darauf stehen zwei gusseiserne Kanonen aus dem 18. Jahrhundert, ein Geschenk des Londoner Stadtteils Greenwich an den Berliner Stadtteil Reinickendorf, zu dem Tegel gehört. Die alten Kanonen hatten einst der englischen Küstenverteidigung gedient. Warum ausgerechnet die Briten sich mit Tegel verbrüderten, wissen wir nicht, wo doch der Bezirk zu Zeiten der »selbständigen politischen Einheit Westberlin« zum französischen Sektor gehörte. Deshalb hätte sich doch eher Saint-Maxime oder Cannes mit Tegel verpartnern können. Na ja, die Côte d’Azur ist ja hier leider anders verewigt.

Vorbei an bettelnden Schwänen, Enten und Gänsen spazierten wir zurück zum zentralen Platz am Hafen mit seinen Ausflugsschiffen. Jetzt wollten wir das Schloss der Familie Humboldt und den Park besichtigen. Auch Goethe besuchte während seines einzigen Aufenthalts in Berlin das Schloss Tegel und aß dort zu Mittag. Er konnte nicht ahnen, mit welchen großen Persönlichkeiten er zu Tisch saß. Alexander, der spätere berühmte Naturforscher, war nämlich gerade erst neun Jahre alt, und sein Bruder Wilhelm elf. Im Jahr 1810 entwickelte der Gelehrte und Staatsmann Wilhelm von Humboldt sein Universitätskonzept, die Berliner Universität gilt seither als »Mutter aller modernen Universitäten«.

Der damals neunundzwanzigjährige Dichter des ›Werthers‹ war angeekelt vom »Spreeathen«. Er absolvierte in Begleitung des zwanzigjährigen Karl August, dem späteren Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, dutzende Besuche. Sie trafen Prinz Heinrich, den Bruder Friedrich II, den verehrten Maler Daniel Chodowiecki und den Philosophen Moses Mendelssohn, aber natürlich nicht den Aufklärer und Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai. Denn der hatte 1775 Goethes Weltbestseller ›Die Leiden des jungen Werthers‹ mit einer Parodie ›Die Freuden des jungen Werthers‹ verspottet. Goethe rächte sich mit dem giftigen Gedicht ›Nicolai auf Werthers Grabe‹.

Auch der ›Spuk von Tegel‹ wäre längst in Vergessenheit geraten, hätte Goethe ihn nicht aufgegriffen. Im Hause des Oberförsters Schulz, das im Schlosspark der Humboldts stand, hatte es in einer eisernen Truhe um Mitternacht ständig gerumpelt. Deshalb wurde eine Kommission beauftragt, zu der auch Friedrich Nicolai gehörte, die Sache zu untersuchen. Schließlich entdeckte man in der Truhe ein Holzscheit, welches mit einer Schnur vom Nebenzimmer aus bewegt werden konnte, kurz, ein Jux des Gesindes. Die Kommission betrachtete damit den Spuk als aufgeklärt.

Über den Fall berichtete Friedrich Nicolai vor der Akademie der Wissenschaften, allerdings verband er die Expertise mit seinem eigenen Hämorrhoidenproblem und dessen erfolgreicher Behandlung. Er beschrieb eindrücklich, wie er acht Wochen lang gelitten habe und vor Schmerzen fast wahnsinnig geworden sei, er sah sogar Geister. Vermutlich unter Einfluss psychoaktiver Substanzen, das erwähnte er in seinem Vortrag allerdings nicht. Schließlich kurierte er sich mit am Gesäß angesetzten Blutegeln, was damals eine weit verbreitete medizinische Methode war.

So etwas ließ sich Goethe nicht entgehen! Noch nach fünfundzwanzig Jahren rächte er sich an seinem alten Feind. Im 1808 gedruckten ›Faust I‹, in der Walpurgisnacht-Szene, nannte er Nicolai einen »Proktophantasmist«, also einen »Steißgeisterseher« und machte so Tegel und den armen Nicolai unsterblich. Es hat ja kaum einer seinen ›Faust‹ so genau im Kopf, also bringen wir hier die bewussten Verse:

PROKTOPHANTASMIST :
Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt ’s in Tegel.
Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird ‘s rein; das ist doch unerhört!

Und kurz darauf:
MEPHISTOPHELES:
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist kuriert.

Goethes Abschied von Berlin im Jahr 1778 war unversöhnlich: »Lebt wohl ihr Musen und Grazien des Sandes und des Staubes … Lebe wohl, Berlin, … Du Stadt der Dichtkunst ohne Poesie, Du Babylon der Weisheit und Philosophie. Ich habe Dich gesehen mit Deinen geschminkten Wangen, Deinem koketten Lächeln, Deinen üppigen Gliedern und Deinen verführerischen Reizen. Mich aber sollst Du nicht berücken mit Deiner trügerischen Schöne. … Schön magst Du sein für Sklavenseelen, der freie Mann, der wendet Dir den Rücken und streuet Asche, Asche, Asche auf Dein Haupt. Leb’ wohl, Berlin, auf Nimmerwiedersehen.«

Fortsetzung folgt
* * *

Von Mai 1990 bis Juni 2018 erschien unser Work in Progress. Es begann mit der ersten Folge ›Glückspilze und endete mit der letzten Folgen ›Der Glücksgott‹. Es entstanden 68 Folgen nebst sechs Treuegaben in 7 Buchbinderkassetten, 3.760 Seiten.

Die Texte von ›Schröder erzählt‹ wurden mit denen der Brüder Goncourt, Benvenuto Cellinis ›Vita‹, Giacomo Casanovas Memoiren, Jules Vallès’ ›Jacques Vingtras‹ und Samuel Pepys’ Tagebüchern verglichen. Es gab in den letzten 26 Jahren zahlreiche Presseveröffentlichungen, insgesamt 826 Rezensionen.

In der Zeitschrift ›Merkur‹, Heft Dezember 2011, erschien Gerhard Henschels Essay »Näher an die Wahrheit ran. Das kulturhistorische Mammutwerk ›Schröder erzählt‹. Wir zitieren daraus: »In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen die Lieferungen des Werks ›Schröder erzählt‹ einsam da. Es gibt zahllose Autobiographien, Tagebücher und Briefbände von Veteranen des Kulturbetriebs, doch es ist nichts darunter, was Schröders Erzählungen gleichkäme, sei es an Umfang, Unverschämtheit, Welthaltigkeit, Angriffslust, Eigensinn oder Witz, und auch die Herstellungsweise und der Vertrieb der Erzählungen sind einzigartig: Sie entstehen in Gesprächen zwischen Jörg Schröder und seiner Lebensgefährtin Barbara Kalender, gelangen von der ersten Abschrift in mehreren gemeinsamen Lektoratsgängen zur endgültigen Textgestalt, erscheinen mehrmals jährlich im Desktop-Publishing- Verfahren und werden einer gegenwärtig dreistelligen Zahl von Abonnenten zugestellt.«

***
(BK / JS)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/schroederkalender/2020/07/02/ausflug-zum-tegeler-see-2/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert