vonDaria Schweigolz 16.11.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Ich hatte eine richtig schöne, entspannte Woche; das ist neu. Die Depression ist weg. Probleme versetzen mich nicht in Angst und Starre, nervige Kleinigkeiten tangieren fast gar nicht. Ich fühle mich so resilient wie lange nicht. 

Der Tag heute war auch schön. Bei meiner Wahl-Oma. Dort, wo es Essen gibt. Jetzt ist Abend und ich stehe an einer ziemlich überlasteten Haltestelle. Das ist ein Knotenpunkt, an dem sich das Gut Bürger selbst von Linie zur Linie sortiert. Meine Gegend ist geht so.

Der Bahnsteig ist voll von Fußball-Fans mit lauter rot-weißen Schals. Sie nerven normalerweise, weil sie in dominanten, überwiegend männlich geprägten Gruppen auftreten, an denen es schwer ist, vorbeizukommen, und, was für mich schlimmer ist – die hemmungslos gröhlen wie sehr laute und sehr große Seelöwen. Heute fehlt das Gefühl von Antipathie. Es geht mir einfach echt gut.

Als ich so zehn war, habe ich angefangen, in meiner Straße – Mayakovskaya in St. Petersburg – wahllos Leute anzulächeln. Manche lächelten zurück und ich hatte das Gefühl, was Gutes getan zu haben. So weit so niedlich.

Das Problem ist nun, dass ich auch heute noch nur durch bewusste Anstrengung Augenkontakt vermeiden kann. Das ist ein Flaw von mir. Und ist der Augenkontakt da, stellt sich implizit die Frage: wie geht’s weiter?

An der Haltestelle sitzen auch zwei junge Freundinnen oder Schwestern im Kopftuch. Ein paar Schritte weiter stehen zwei Männer, die Araber sein könnten. Ich muss kurz an Amsterdam denken und wüsste gern, wie antizionistisch sie jeweils sind.

Schön wäre es, das auf einer Antizionismus-Skala, von eins bis zehn genau sehen zu können. Dabei wäre zehn sowas wäre wie ‚Hitler didn’t do the job right, we will finish‘, neun ‚Babys are occupiers, too‘ , ‚Hamas sind Terroristen aber Zionisten sind genauso schlimm, aber töten mehr Menschen‘. Sieben wäre ‚Das ist aber nicht schön, was Israelis mit den Palästinensern tun‘ usw. Alle mit dem Antisemitismus-Level ab sieben, könnte ich ignorieren oder aus Rache für ihre schmerzvoll-idiotische Gesinnung zu ihnen starren, ohne auch nur einen Hauch von Freundlichkeit. Wäre nice, ist aber nicht.

Ein schlaksiger, schwarzhaariger und brauner Teenager in einer bodenlangen schwarzen Jacke, mit großen Augen und großem Mund steht neben mir und wartet auch auf die Bahn. Auch ich habe eine schwarze Jacke, mir reicht sie aber nicht bis zum Knöchel sondern bis zum Schienenbein.

So stehen wir da.

Ein Bus kommt. Zäh schieben sich die Fans in Trauben zum Busfahrereingang. Eine kleine Gruppe deutscher Schüler, so ungefähr Klasse 8, behängt mit Merchandise-Schals des Fußballvereins, arg stämmig und unübersehbar blond, steht an der Tür.

Die Tür ist noch zu.

‚Wer hat gewonnen?‘, fragt der schlaksige Junge in der langen schwarzen Jacke.

Die kriegen einen Schreck und raffen nicht, wieso sie überhaupt angesprochen werden, weil man ja damit in der Öffentlichkeit hier auch wirklich nicht rechnet. Und die raffen vor lauter Schreck auch die Frage gar nicht. ‚Was?‘ ‚Red Bull hat doch gespielt, wer hat denn gewonnen?‘

‚Null zu null‘ nuschelt der nächststehende Junge und strahlt jetzt schon eine gewisse Anspannung aus. ‚Neun zu neun?‘, fragt der schlaksige Junge, erstaunt. ‚Null zu null‘, sagt der blonde Junge bisschen lauter und keinesfalls deutlicher. ‚Was jetzt, null oder neun? Oder neun zu null?‘. Der blonde Junge lacht und steigt ein. Mich reizt sowas normalerweise enorm, weshalb es auch logisch ist, dass mein Körper zu viel Kortisol produziert. 

Übermorgen mag der deutsche Junge ein AfD-Wähler werden, aber heute ist es bloß ein beschränkt kompetentes Kind mit einem seltsamen Hobby. ‚Null zu null‘, sage ich zum schlaksigen Jungen. ‚Null oder neun?‘. ‚Null, unentschieden‘, sage ich. ‚Achso!‘ sagt er und klingt erleichtert. ‚Gucken Sie auch Fußball?‘ fragt er. ‚Nein, überhaupt nicht‘, sage ich. ‚Was gucken Sie?‘ ‚Netflix‘, sage ich beschämt. ‚Aber was?‘, fragt er. ‚Halt irgendwelche Serien über irgendwelche Leute, die irgendwas tun‘, sage ich. ‚Woher kommen Sie?‘, fragt der Junge, ‚Wie bitte?‘, sage ich.  ‚Kommen Sie aus Deutschland? Sie klingen halt so, als wären Sie keine Deutsche‘. Ich muss lachen. ‚Du bist auch der Erste seit Langem, der das so sieht‘. ‚Also Sie sind nicht Deutsche, wo kommen Sie denn jetzt her?‘, der Junge lässt auch dieses Mal nicht locker. ‚Ursprünglich aus Russland‘, sage ich widerwillig. ‚Aber ich bin Israeli und ich bin schon sehr lange hier‘. ‚Ich bin Israeli‘ ist meine Antwort, weil ich früher nicht als Russin gelten wollte, mich so auch nie gefühlt habe. ‚Ich komme aus Russland‘ ist irgendwie auch der Wahrheit geschuldet. ‚Und wie lange in Deutschland?‘, fragt er. ‚Seit 20 Jahren‘, sage ich, ‚Also echt lange‘. ‚So gesehen bin ich auch Deutscher, habe Deutschen Pass‘, sagt er. Ich biete ihm als Zeichen meiner Anerkennung seiner Staatsangehörigkeit die Ghetto-Faust an. ‚Keine schöne Zeit, um Israeli zu sein‘. Ich stimme ihm zu. Das Lezte mal habe ich so viel Empathie für meinen Pass bekommen bei einem Date mit einem Palästinenser. ‚Jeder so heute ‚Scheiß Israel‘. Ich selbst, also ich würde sagen, ich bin eher für Palästina, also für Palästinenser, aber was kannst Du dafür, was da passiert.‘ Dazu was zu sagen fühle ich mich verpflichtet: ‚Die Allermeisten Israelis haben an sich auch nichts gegen Palästinenser‘, sage ich und stelle mich auf so eine zähe Antizionismus-Diskussion ein. ‚Also ich bin wahrscheinlich ein Bisschen eher für Palästinenser‘, redet er weiter, ‚aber wer bin ich schon, was weiß ich schon. Es ist Ernst, Menschen sterben, Kinder sterben. Wer setzt sich schon mal fünf Minuten hin und informiert sich, keiner, aber ‘heeey ich bin für Palästina’ oder ‘hey ich bin für Israel‘. Ich horche auf. ‚Viele machen das so wie beim Völkerball, ich bin dieses Team, dabei haben sie keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Wäre oft eigentlich echt besser, wenn man einfach gar nichts sagt.‘

Auch ich habe mir in letzter Zeit oft gewünscht, dass deutsche Studierende in Bibliotheken sitzen, deutsche Arbeiter jeder Herkunft vielleicht wieder mal eine Gewerkschaft gründen oder so, und US-amerikanische Kunststudentinnen in den USA Kunst machen statt den Nahost-Konflikt. 

Was der schlaksige Junge sagt, ist Balsam für meine Ohren.

Die Bahn kommt. Wir steigen ein.

‚Wie alt bist Du eigentlich?‘, frage ich. ‚Siebzehn‘, sagt er. ‚Erzählen Sie weiter‘, sag’ ich. ‚Viele sind einfach so: sie sehen so einen Post auf Instagram und teilen den. Aber Menschen sterben in echt. Kinder sterben. Auch Juden sterben in Israel. Und die wissen gar nicht, worum es geht. Manchmal habe ich das Gefühl” – und hier verlangsamt der Teeny tatsächlich die Redegeschwindigkeit und denkt kurz nach – “sie machen das eigentlich mehr für ihre Freunde, um politisch korrekt zu sein. Damit alle wissen, ‘ok er ist für Palästina’.‘ 

Der Junge hat mein Herz erobert. ‚Das ist ziemlich reflektiert‘, sage ich, ein bisschen beeindruckt. ‚Ja, es ist immer so, ich denke immer anders‘.

Dann reden wir noch über die Schule. Er ist “technisch gesehen fertig” – sein Ausdruck, nicht meiner. Ich versuche, dem Jungen die Uni schmackhaft zu machen. “Ich komme aus Südafrika”, sagt er. “Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie es da ist.” Ich weiß nicht, wie es da ist, und höre zu. “Da sind keine Ghettos, das sind richtige Slums, Menschen leben in Lehmhütten und haben nicht genug zu essen”. Ich höre zu. “Wenn wir telefonieren meine Cousins sagen auch – oh Du glücklicher, ich würde gern zur Schule gehen.” “Die haben recht”, sage ich. “Vielleicht, ja, aber ich habe entschieden, niemand bestimmt über mich.”. 

Dann erzähle ich ihm noch, wozu die Uni meiner Meinung nach gut ist: „Man hat mit einem Abschluss einfach viel mehr Optionen“, sag ich zum Beispiel. „Ich habe viele Optionen“, sagt er „echte Optionen, und ich meine nicht Dealen auf der Straße oder so“.

Dann muss ich auch wieder raus – er fährt weiter.

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