von 23.05.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Seit neun Monaten kämpft Lena gemeinsam mit NC SOS (North Caucasus SOS) darum, das Verschwinden ihrer ehemaligen Mitbewohnerin und ihrer engen Freundin Seda Sulejmanova aufzuklären. Seda ist aus dem erzkonservativen Nordkaukasus geflohen, wurde jedoch der Familie „erstattet“.

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Wer ist Seda und was ist passiert?
Sackgasse
Der Kampf geht weiter

„Where is Seda Sulejmanova?“

Wer ist Seda und was ist passiert?

Seda Sulejmanova ist jetzt – oder wäre es jetzt – 27.

Sie wächst in einer für örtliche Verhältnisse moderat-konservativen Familie auf, beendet die Schule und bekommt eine medizinische Ausbildung. Dann arbeitet sie als Barista in Grozny. Diese Ausbildung bekommen heute die meisten Frauen in Tschetschenien, die studieren dürfen; das verbessert ihren Wert auf dem Heiratsmarkt, weil sie so die Ältesten und die jüngsten Familienmitglieder besser versorgen können. Seda lebt mit ihrer Mutter bei ihrem Onkel Mikail Sulejmanov: der Vater starb in einer Flüchtlingskolonne, die von Russland beschossen wurde.

Die Familie ist patriarchal organisiert, Konzepte von Familie, Liebe, Gewalt und Macht sind vermischt. 2022 ist Seda 25 – und noch nicht verheiratet. Ihre Mutter beginnt, sie strikter zu kontrollieren, durchsucht ihre Sachen. Sie verhalte sich angeblich “zu freizügig”. “Wurde sie geschlagen?”, frage ich Lena “In der Regel wird geschlagen, aber von Seda weiß ich nicht konkret, dass sie systematisch misshandelt wurde. Kann dennoch sein, dass sie es einfach nicht erzählt hat.”

Heirat steht an – keine Liebesehe, sondern eine ‘Heirat nach Abmachung’. 2022 entscheidet Seda deshalb, zu fliehen. NC SOS hat sie in einem geheimen Shelter untergebracht. Nach ca. drei Monaten verlässt sie die Obhut der NGO: die Situation scheint stabil. Sie lebt nun in St. Petersburg in einer WG mit Lena. Sie hat einen Job, interessiert sich für Kultur, ist gut drauf. Sie will ein ruhiges, aber ein selbstbestimmtes Leben.

Nur eine Woche geht das gut. Im Winter spürt ihr Cousin Achmad Bataev auf. Er warne sie vor den betrügerischen Netzwerken, die angeblich junge Frauen ins Ausland locken wollen, versichert ihr, dass er die regionalen und staatlichen Behörden einschalten werde, dass man sie überall finden werde.

An diesem Abend gelingt ihr noch die Flucht. NC SOS bietet ihr an, sie ins Ausland zu evakuieren, aber sie zögert. Man bringt sie in einem anderen Safehouse unter. Hier – online – lernt sie ihren Partner kennen, Stanislaw Kudrjawzew. Es ist ernst, sie sind glücklich, sie arbeitet wieder, zieht im Mai 2023 mit ihm zusammen und verlobt sich. Sie wollen heiraten, wollen ein Kind zusammen. Sie ziehen zusammen. Seda glaubt, diese Entwicklung werde die Familie womöglich besänftigen , – das Gegenteil jedoch ist der Fall.

Vor neun Monaten – am 23. August 2023 – kommen Polizeibeamte und zwei Tschetschenier in Zivil. Sie nehmen Stas sein Telefon weg, also kann er Seda nicht warnen. Beide werden verhaftet und er später freigelassen. Gegen sie wird Anklage erhoben, angeblich wegen Diebstahls. Angezeigt habe sie ihre Mutter.

Das Vorgehen ist bekannt: die Familien haben gute Beziehungen zur Polizei, tschetschenische Polizei und Polizei in anderen Regionen der Russischen Föderation arbeiten bei Bedarf zusammen.

Man bringt Seda nach Grozny, Tschetschenien, ändert ihren Status: von der Angeklagten zu Zeugin und übergibt sie der Familie. Man zwingt sie, ihre Anwälte zu entlassen – was laut der russischen Gesetzgebung in der Abwesenheit jener nicht geht. Die NGOs versuchen, Kontakt herzustellen, machen die Situation publik und schicken Anwälte nach Grozny. Mansur Soltaev – der „Menschenrechtsbeauftragte“ in Tschetschenien und enger Freund Kadyrows – “besucht” Seda und postet, sie sei in Ordnung und es „droht ihr nichts“. Auf dem Video läuft er 15 Sekunden lang gemeinsam mit ihr durch den Hof. Sie ist ein Schatten ihrer selbst. Die Szenerie ist auffällig gegenüber den üblichen, sorgfältig inszenierten Statements der Betroffenen, in denen sie beteuern, dass alles in Ordnung sei, dass sie nun glücklich seien.

Auf den wenigen Bildern und Fotos, die es nun gibt, trägt Seda Kopftuch und bedrückend hochgeschlossene, lange Kleider.

Die religiöse und die traditionelle Bedeutung des Gewands überschneiden sich. Die Ehrenmorde in dieser Form sind nicht religiös motiviert: in religiösen Familien kommt es ohne eine Verurteilung nicht zu Hinrichtungen. Hier geht es um die männliche Ehre und die ‘Adaten’ – das tschetschenische Sittengesetz – in einer besonders brutalen Variante, gepaart mit  politischer Gewaltherrschaft und pseudo-religiöser Selbstherrlichkeit. Adate sind eigentlich pre-islamische Kodi, die regional variieren und nicht von der Mehrheit mitgetragen werden, jedoch wird das säkulare Recht in Tschetschenien nicht durchgesetzt. Jemanden “wie einen Hund begraben” ist ein feststehender Ausdruck unter den Angehörigen des Kadyrov-Clans. In der Öffentlichkeit nimmt Kadyrov aber auch gern die Scharia für sich in Anspruch.

Nach Seda Sulejmanovas Verschwinden gibt es: ein Video, ein Foto, ein Telefonat.

Dann hört man nichts mehr von ihr.

Seda und der hochrangige tschetschenische Kriminelle sitzen in Sesseln einander gegenüber. Seda schaut zu Boden. Sie hat starke Verletzungen am Hals und ist traditionell angezogen.

Screenshot aus dem Telegram-Channel des Menschenrechtsbeauftragten in Tschetschenien

Sackgasse

Seit neun Monaten.

“Einem [der Menschenrechtler] ist es kürzlich gelungen, einen engen Verwandten von Seda Suleymanova telefonisch zu erreichen. Auf die direkte Frage „Wo ist Seda?“ [und ob sie am Leben ist] antwortete er: „Wo ist diese Hure? Wie tot? Sie liegt doch hier!“ Er hat gebeten, sie anzurufen, ein Foto oder ein Video zu machen, das wurde aber verweigert.”

Gerüchte – zwei Quellen aus dem erweiterten familiären Umfeld – bestätigen Sedas Ermordung.

Ich weiß nicht, wie Lena weitermachen kann. Im Messanger schreibt sie mir: “Sie ist meine Freundin. Natürlich kämpfe ich.” 

Lena hat alles Mögliche gemacht: Flyer, Texte, Einzelkundgebungen, – die Letzteren gehen in Russland mit einem Risiko der Verhaftung einher. Sie hat Flyer gemacht, sie gibt Interviews, sie erzählt diese Geschichte immer wieder in verschiedenen Medien. Sie kommuniziert knapp und sachlich. Auf den Fotos sieht sie jetzt so anders aus, als letztes Jahr. Diese Realität zeichnet. “Heute ist ein schlechter Tag”, sagte sie mir vor dem Interview. Sie ist unterwegs, wir telefonieren.

“Ich habe noch einen Rest Hoffnung, anders als Stas” – sie meint Stanislav, Sedas Verlobten.

“Mein Ziel ist es, eine größtmögliche Öffentlichkeit herzustellen. Ich habe den Eindruck, dass es bereits jetzt viel Publicity gibt, aber es braucht unbedingt mehr. Das Endresultat ist, dass ich Klarheit will, – falls sie lebt – , zumindest zu wissen, dass sie lebt, und wenn sie ermordet wurde, herauszufinden, dass sie ermordet wurde, und weiter die Strafverfolgung voranzutreiben.”

“Wo braucht es den sozialen Druck, von dem Sie sprechen?” – 

“In Tschetschenien ist kein sozialer Druck möglich, die Menschen leben in einer noch strengeren Diktatur, sie haben ja schon Angst davor, die Straße an der falschen Stelle zu überqueren. Davon abgesehen unterstützen viele die repressiven Traditionen. Und die, die es nicht tun, würden es niemals wagen, das Wort zu ergreifen”

“Also muss es der soziale Druck in Russland selbst sein?”

“Im Besten Fall auch international, aber ich meine nicht nur Geschriebenes, ich meine: es muss wirklich zu einem viralen Thema werden. Beides ist schwer herzustellen.”

Am 19. September 2023 hat man eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Entführung gestellt. Im Oktober 2023 konvertiert Stas zum Islam. In Februar 2024 stellt sich Lena mit einem Plakat raus: “150 Tage nicht gesehen – wo ist Seda Sulejmanova?” wird für den Einzelprotest festgenommen. NC SOS veröffentlicht, dass Seda mutmaßlich Opfer eines Ehrenmordes geworden sein könnte. Am 03. April 2023 gibt NC SOS bekannt, dass das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation – die russische Strafverfolgungsbehörde – Sedas Verschwinden untersucht.

Eigentlich hat sich Lena gemeinsam mit den NGOs ein Unterstützungsnetzwerk erarbeitet. In den sozialen Netzwerken fragt man sie hin und wieder, was man tun könnte – legal nach den momentanen Regelungen der RF -, doch die nächste Etappe hat noch nicht begonnen.

Lena, die NGOs und die Anwälte warten ab, eher sie den öffentlichen Druck wieder aktivieren: sie wollen den Behörden eine gewisse Zeit zu geben, um “ihre Arbeit zu tun oder nicht tun, aber eher nicht zu tun, natürlich”. Lena schwebt im Tal des Wartens. „Ich weiß nicht, was wir im Moment tun können, außer noch mehr Publicity. Die Leute können nicht alle demonstrieren, sie wollen nicht in den Knast, und ich verstehe sie ein Stück weit. Seda ist ja meine Freundin, nicht ihre. Einelproteste sind riskant.“

Im Moment bleibt also nur, diese Geschichte immer wieder zu erzählen, weiter, immer weiter zu tragen.

Was kann der öffentliche Druck überhaupt bewirken, frage ich. 

“Wie sehr die Behörden auch beteuern, dass ihnen die internationale Meinung egal sei – so ganz einfach ist es nicht. Sie müssen also irgendwie ihre eigenen bürokratischen Vorgaben befolgen. Je mehr Druck wir machen, desto mehr Energie, mehr Ressourcen müssen auch die Beamten aufbringen, um den Schein von Gesetzestreue wahren zu können. Das ist unglaublich aufreibend. Doch tun wir’s nicht, dann stellen sie die Menschen irgendwann ohne jeden Schein die Wand, weil sie merken, dass gar kein Widerstand vorhanden ist.”

Der Kampf geht weiter

„Heute ist ein schlechter Tag“. Eines mache sie aber doch optimistisch: in einem anderen Fall – im Fall Lia und Artem – hat die öffentliche Unterstützung den beiden womöglich das Leben gerettet. Als Lia und ihr Freund Artem auf dem Polizeirevier Schutz gesucht haben, glühten dort die Leitungen. Die Polizistinnen nahmen ab, legten auf, dennoch war’s permanent besetzt. Die Familie durfte das Revier zunächst betreten – doch dann sind Lia und ihr Freund knapp entkommen und sind im Moment in Sicherheit im Ausland.

Die Kampagne nach Sedas Entführung habe die Öffentlichkeit vorbereitet. ”Unsere Arbeit hat Seda vielleicht nicht so viel genützt, aber mindestens Lia.”

Der Kampf geht weiter.

 

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Quellen:

Bildquellen:

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https://blogs.taz.de/seelegegenwand/furchtlose-helferinnen-und-mutige-frauen-2/

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