vonDaria Schweigolz 29.12.2023

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Hier sollte eingentlich das Interview mit einem Menschen stehen, der mir recht wichtig ist. Vor 22 Jahren, noch als Kind, habe ich ihm zum ersten Mal eine Email geschrieben: von einer yandex-Adresse, ganz kurz bevor wie ausgewandert sind. Er hat 2014 meinen Sohn getauft, worum ich ihn bat. Für mich hat das eine wichtige symbolische Bedeutung, weil er für mich wie kein anderer für Toleranz und unbeugsamen politischen Widerstand steht. Er war schon in der Sowjetunion Christ, wurde dann Geistlicher, ständig unter Beobachtung der Geheimdienste, Historiker und überzeugter Pazifist mir jüdischen Vorfahren.

Und wohl deswegen hat es zwischen uns auch dermaßen gekracht: er wollte von mir ein Bekenntnis gegen den Krieg in Gaza und Israel. Natürlich bin auch ich theoretisch gegen den Krieg. Ich habe die moralische Verantwortung für die zivilen Opfer des Israel-Hamas Krieges hinter der israelischen Grenze bei Hamas verortet, und nicht bei Israel, – er die moralische Verantwortung für so ziemlich alles, was in diesem Konflikt und jetzt dem Krieg schief geht, bei Israelis allein. Eigentlich will ich gar nicht mehr über moralische Verantwortung sprechen, weil ich es für keine Kategorie halte, die irgendwas erklärt. Aber wenn schon, dann sollte man in Betracht ziehen, wer und wieso Entscheidungen so oder anders trifft. Es gibt Israelis, sie sind hier auch handelnde Subjekte, es ist wichtig, ihre Beweggründe zu verstehen, eher man das Land kollektiv schuldig spricht. Dass Israel mehr ist, als eine Art Exklave der polnischen, russischen, amerikanischen Juden, der Überlebenden, nimmt er – so scheint mir – nicht zur Kenntnis. Die frauenverachtende und rassistische Intention der Überfälle hat er – absichtlich wie unabsichtlich – relativiert.

Ja, als Pazifist ist es nur folgerichtig, dass Gewalt nicht als Rechtfertigung für erneute Gewalt dienen darf, dann aber muss man in der Lage sein, andere Optionen zu benennen. Sie müssen für beide Seiten tauglich sein. Das Tragische der letzten Jahrtausende ist, dass Menschen regelmäßig in Situationen landen, für die sie eigentlich gar nicht gemacht sind: daraus entstehen Dilematta, auch ethische. Entsprechend unterschiedlich fällt aus, was ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann, und was nicht. Und was andere können, und was nicht.

Und ich bin auch keine Pazifistin. Es gab drei prägende Situationen in meinem Leben, in denen ich zu mir selbst oder auch zu meinem jeweiligen Gegenüber gesagt habe, dass ich mich rächen werde – mit Gewalt – wenn ich physisch verletzt werde. Ich hätte gar nicht in der Situation landen dürfen, in der ich so denken muss, aber so war es nun mal. Keine Gesellschaft hat mich vollumfänglich geschützt, auch nicht als Kind.

Auge um Auge ist nicht die Strategie, aber es ist eine Strategie und sie kann langfristig Grenzen setzen, Klarheit schaffen und Konflikte eindämmen. Sie kann. Aggression als Reaktion auf Gewalt, auf einen verbalen oder tätlichen Angriff ist eine natürliche Reaktion. Sie war überlebenswichtig, bevor Gott und Leviathan sie an sich gerissen haben.

Heute ist alles komplexer. Die Folgen der Gewalt im Krieg potenzieren sich non stop; das verstehe ich. Ich habe nur versucht, zu erklären, dass Menschen aus meiner Sicht generell das “moralische Recht” haben (müssen), Grenzen zu setzen, notfalls mit Gewalt – wenn wir schon über Gebote sprechen. Das ist vorrangig den Fragen der Strategie, der Effektivität, der Verhältnismäßigkeit, der menschlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Kosten, die immer immens sind, und niemals vollständig aufgearbeitet werden können.

Ich wurde nicht angehört, ich war verletzt und wütend: wie damals, als ich ein Kind war, hörte man mir nicht genau zu. “Sie sagen von sich, Sie seien Feminist, benehmen sich aber nicht so”, schrieb ich. Von Menschenfressern habe er schon in Russland genug, schrieb er, und dass es ihn anwidere, dass ich militärische Gewalt rechtfertige, und mehr desgleichen. Ich habe versucht, zu erklären, wieso, bin hier und da sachte zum Gegenangriff übergegangen. Ich wollte gehört werden, doch wieder zählten meine Erfahrungen und meine Ideale nicht, wofür ich kämpfe oder einstehe und wieso war egal, wieder stülpte mir jemand anders seine Moral über. Ein entrechtetes Kind in einer autoritären Gesellschaft, ohne diskursive Macht.

Tränen im Badewasser. Ich steige aus der Wanne. Hinter dem Fenster des Badezimmers noch immer derselbe Himmel ohne Sirenenalarm und ohne Bomber. Ich erkenne den Ist-Zustand der Beziehung an, fahre zur Therapie und lasse im Laufe des Tages den Wunsch gehen, mich zu beweisen. Ich bin nicht mehr 12, niemand wird mich hier auffangen, er kennt mich nicht, er hat eigene Kinder und Enkelkinder. Was uns wirklich verbindet ist vage: Geschichte, ein gemeinsames kulturelles Erbe: wider den Putinismus, jüdischer Herkunft, irgendwie assimiliert und auch nicht, gebildet, moralistisch. Wir sind beide rechthaberisch, er hat Jahrzehnte seines Lebens in der Diktatur gelebt, – ich bin im kulturellen und wirtschaftlichen Chaos zwischen der Sowjetunion und dem Putinismus abermals fast ganz untergegangen. Sein Verhalten ist trotzdem unentschuldbar.

Jetzt bin ich jenseits der Wut, weil das, worauf ich wütend bin, so nicht mehr existiert. Ich lebe jetzt anders. Vielleicht ist sein Gegner die Zivilisation allgemein und ihre Instanzen, der Staat und alle seine Vasallen, aber so leben wir nun mal. Er schwamm immer gegen den Strom. Ich verstehe seine Wut: dort, wo wir beide herkommen, gab es keine benennbaren Leitplanken für eine gesunde aber produktive Diskussionskultur: manche konnten es, andere nicht. Und ich glaube, er unbedingt Recht behalten muss, weil seine Prinzipien universell sein sollen – denn für einen idealistischen Menschen vom alten Schlag ist kaum etwas so schwer, wie Widersprüche auszuhalten. Und ich weiß auch aus Erfahrung, dass ich den unbedingten Respekt, den ich mir ersehne, in solchen Disputen nicht gewinnen kann.

Trotzdem lähmt mich dieser politische Streit, ausgetragen in Emails und eigentlich gegen meinen expliziten Wunsch nun seit über einer Woche. Ich habe schlechtes Gewissen und ich reflektiere. Seine Aggression war ungerechtfertigt, – sie galt nicht mir als Person, weil er nicht in einen Dialog mit mir gegangen ist. Seite Wut ist nicht gut für seine Gesundheit, nicht für meine, sie rettet kein Menschenleben, baut keine Brücke, liefert kein Trinkwasser, macht keine lebensrettende OP. Und er hat die Chance vertan, zumindest in Gedanken gemeinsam nach Wegen zu suchen, auf denen nicht nur er, sondern eben auch ich oder akut betroffene Menschen mit ihm gemeinsam gehen und nach realistischen und langfristig tragfähigen Lösungen suchen könnten. Aber seine Wut galt – obgleich nicht mir – so doch einem realen Phänomen: nämlich dem, dass Menschen, die womöglich gar nicht selbst unmittelbar in Schussfeld sind, noch häufiger gewaltvolle Auseinandersetzungen bejahen, als akut betroffene Menschen. Aus der Ferne schießt es sich am Besten, Konzepte ersetzen die reale Erfahrung.

Soll ich also einfach gar nichts schreiben? Mir ist danach. Nie ist es mir so schwer gefallen, einen Text zu Ende zu schreiben. Das hier hat sich angefühlt, wie Klavier spielen mit weg-gedrehtem Kopf, Hände unter einem Handtuch, das auf der Tastatur liegt. Zäh, abwesend. Ich werde es trotzdem schreiben, aber ich werde – so Gott helfe – noch besser abwägen, was und wie.

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