Der eigentliche Beitrag, den ich für den 8. März geplant habe, war ein Interview mit der Pressesprecherin einer NGO, die Menschen – überwiegend Frauen – hilft, aus gewalttätigen Beziehungen auszusteigen. Dieses Interview ist noch in Arbeit, und so habe ich am 8. März erstmal einfach gar nichts veröffentlicht. Am 9. sah ich irgendwo online eine Collage mit den Gesichtern der Frauen, die immer noch in der Gefangenschaft von Hamas sind, – ich wollte darüber schreiben, finde den Raum aber nicht: noch eine Krise, die ich mir zu Herzen genommen habe – die mich aber doch letztlich kaum betrifft. Wie beschämend! Was es für mich bedeutet, Israeli zu sein, habe ich im allerletzten Beitrag in diesem Blog beschrieben. Was bedeutet es für mich, aus Russland zu kommen? Die Liste ist unendlich lang und in den letzten Jahren füge ich der auch immer mal Punkte hinzu, die ok sind, und nicht mit Enttäuschungen, Verlusten und Kränkungen einhergehen. Heute zum Beispiel sang ich auf dem Fahrrad und mitten im Verkehr ganz laut unglaublich melancholische Variationen auf irgendeinen sehr bekannten, sehr beliebten Film – aus der Sowjetunion. Und meine Mutter sagte letztens: es gab fast nie was Frisches im Winter, dafür aber viel Saisonales. Wir versöhnen uns also langsam beide mit unserer Herkunft. Die Sowjetunion brachte sehr viele Menschen mit einer Art Heldenkomplex hervor, und einer davon bin ich, und es liegt in der Familie. Ich wäre gern eine Heldin, aber ich bin es nicht, und das macht mich manchmal traurig und krank. Ich treffe Sachentscheidungen, wann immer es nötig ist, ich halte große Stücke auf die Realität, in den Pausen schlag ich die Zeit tot, ich sehe den Tatsachen ins Auge, ich gehe Probleme schrittweise an, ich kümmere mich um dies und jenes und habe Dinge im Griff, und dann gehe ich in die Therapie und ich schreie, denn ich bin müde, müde davon, vernünftig zu sein, zuverlässig und angepasst.
Mein Großmutter war niemals opportunistisch. Das sagen viele, und sie meinen damit oft, dass sie ehrlich waren, nicht betrogen haben, niemandem wissentlich geschadet. Meine Großmutter war nicht opportunistisch in einem sehr drastischen Sinne des Wortes: sie hat verweigert.
Als sie die Gelegenheit hatte, eine Einzelwohnung für sich und ihre Familie zu bekommen, ging sie – quasi Professorin der Leningrader Universität und eine nachweislich großartige Dozentin – nicht zum Amt, weil sie kein Privileg für sich in Anspruch nehmen wollte. Ihre Familie lebte und arbeitete weiter in Zimmern in Kommunalwohnungen, meine Mutter schlief hinter einem Schrank, wie so viele Kinder ihrer Generation. Aber um die Liste der Entbehrungen geht es mir gerade gar nicht, sondern um etwas ganz anders. Meine Großmutter war in ihrer Jugend in ihre Kameradin – Parteigenossin – Kolpakowa verliebt. War es nur aus dem Idealismus und Heldenmut, oder war meine Großmutter doch bisexuell, mindestens ein Bisschen?
Ich weiß, dass ich jedenfalls anders bin. Ich verliebe mich teils wirklich unnötig in Männer, aber ich will kein Nest gründen: sondern wenn schon, dann einen Klan, oder die Welt erobern, – und ich verliebe mich in Frauen, und will sie beschützen, will ihren Erfolg, ihr Glück und will ihnen ein Königreich zu Füßen legen.
Ich liebe anders und wollte anders leben, und keiner der Männer, die mich lieb hatten, hat es sowohl verstanden als auch ertragen. Also lebe ich jetzt im scheinbar einzigen wirklich leicht zugänglichen ‚alternativen Lebensentwurf‘, im dem Wechselmodell. Mein Sohn ist eine Woche da, und eine Woche nicht.
Mutter zu sein ist krass: ich bin die wichtigste Frau im Leben eines Menschen, ja sogar eines Kindes, – Kinder sind heilig. Ich bin die Beschützerin, Beraterin, Lehrerin und was auch immer sonst noch von einem unglaublich witzigen, manchmal ehrgeizigen, intelligenten, einfühlsamen, wundervollen Jungen. Seine Anerkennung macht mich stolz, und es ist absolut toll, dass ich das – diesen Schatz an Liebe in mir – durch ihn – entdeckt habe.
Natürlich war das nicht mein Plan für mich. Ich wäre lieber länger auf meiner Wanderung gewesen, lieber hätte ich meine Beziehungen so gestaltet, wie ich wollte, ich hätte lieber den Raum gehabt, zu lieben, wen ich möchte und wie ich möchte. Ich glaube, ich wollte immer eine Partnerin und einen Partner, oder mehrere Partner und eine Frau verehren. Ich komme mir unglaublich altmodisch vor, und bin damit andererseits so im Trend, was ich es nie wollte. Ich wollte nie mit anderen ‚experimentieren‘ und mit anderen darüber sprechen; wie ich liebe, das ist doch keine Modeerscheinung und kein Lifestyle-Projekt, dachte ich. Jetzt verstehe ich, dass wir alle nach Lösungen suchen, um aus dem kulturellen Ballast, der sich über Generationen angesammelt hat aber nicht mehr funktioniert, etwas Neues zu machen, das wieder funktioniert.
Und naja ich brauche meine Romantik. Ich kann nur selten small talk, aber nicht länger als 10 Minuten, und die meisten Filme und Bücher machen mich tot-traurig oder langweilen mich, und das Leben ist anstrengend so, weil man immer entweder 100% dabei ist, und alles Ernst ist oder öde. Mit meinem Kind mache ich viele Witze, mit ihm habe ich es neu gelernt.
Aber jemanden noch anders zu lieben, nicht als gottgleiche Mutter – das gibt mir Auftrieb. Mir fehlt es an Geborgenheit. In jemandes Arm zu liegen oder jemand im Arm zu halten, etwas schenken, aus Liebe tun, teilen, Wissen teilen, mich teilen, Zuhören, einfach dabei sein, wenn ihr oder sein Leben stattfindet, fast alles anvertrauen können – das war mein Jericho, mein Zufluchtsort, der Hafen. ‚Du aber bist der Hafen‘ ist ein Gedicht von Mascha Kaléko, das ich immer schon mag. Auf einem Kontinent und in einer Gesellschaftsstruktur, in der alles irgendwem gehört, alle gesellschaftlichen Interaktionen erforscht sind, alles bemessen und beschrieben und tot-besessen wurde ist Liebe das einzige Abenteuer, das ich mir überhaupt noch vorstellen kann.
Und außerdem: in einer Welt, in der Menschen, die einen lieben, einen zugleich furchtbar verletzen oder wegsterben, ist Liebe das verzweifelte Bekenntnis des Lebens zu sich selbst der Vergänglichkeit zum Trotz und im buchstäblichen Angesicht des Todes. Und für solche Liebe ist ein Sofa vor dem Fernsehen nicht der natürliche Ort. Und vielleicht deshalb wollte ich eigentlich nie eine Frau sein, aber sicher kann ich’s nie wissen. Ich werde nie ganz sicher wissen können, ob es an meinem Intellekt, meiner Sexualität, der Historie der Weiblichkeit allgemein oder meinen persönlichen Verletzungen liegt, dass ich es nicht wollte. Aber ich bin mir mittlerweile doch sehr sicher, es waren nicht meine Verletzungen, sondern andersrum: Es war, weil ich meinen Verletzungen damals noch nicht erlegen war.
Was uns Menschen auszeichnet – uns als Lebewesen, nicht als metaphysische Monstergestalten aus Versatzstücken religiös-philosophischer Ideen – was uns auszeichnet, ist unsere Bewegungsfähigkeit: das sagt die Biologie heute, und das ist plausibler, als etwa der Daumen, die Erektion, das Gewissen, die Gehirnmasse oder Speere und Messer: alles zufällige Eigenschaften. Aber dieses monströse Selbstbewusstsein – das zeichnet uns aus. Es ist das Wissen um uns und das, woher wir kommen – räumlich wie zeitlich – sowie die Fähigkeit, vorauszusehen, wohin wir uns bewegen, räumlich wie zeitlich. Wir haben diese vierdimensionale Karte der Welt, um den Ort verlassen zu können, an dem wir sind, wenn die Nahrung, das Wasser oder die Wärme ausgehen, und das setzt voraus, dass wir eine grobe Vorstellung von uns selbst und anderen Menschen haben. Wir waren lange, lange unterwegs, doch irgendwann vor nicht allzu langer Zeit war es an vielen Orten der Welt ’soweit‘: Sesshaftigkeit, Landwirtschaft, Anhäufen von Ressourcen, Verteilungskonflikte, organisierte Kriminalität und organisierte Selbstverteidigung, zunehmende Arbeitsteilung… Viele Generationen, – doch nicht ganz so viele, wie wir immer denken, – und ein unglaublicher Konstrukt an Kultur, an sozialer Logistik entsteht aus den Trümmern der prähistorischen Welt. Es reguliert, wer was können soll und wie. Und wir haben entsprechend fast ganz die Fähigkeit verloren, uns auf Fremde einzulassen. Wir haben vergessen, mit Wenigem zurecht zu kommen, und verlernt, zu wandern. Jetzt müssen wir eine Menge planen, um den Ort zu verlassen, wenn wir nicht sein wollen, wo wir sind: Karrierewechsel, Haushaltsauflösung, Aussteigen, Ausbruch, Expansion, Angriffskrieg, Mord, Betrug, Terrorismus, Dystopie, Flucht, Interstellar –
Die letzten Jahrzehnte ging es politisch darum, mit der Sesshaftigkeit, dem Zustand von Überbewirtschaftung und Einkommensunterschieden als Gesellschaften zurecht zu kommen. In Demokratien fordern wir ein,
Wir verschanzen uns hinter Dingen, die versprechen, dass die Sesshaftigkeit schon ganz bestimmt bequem und erfüllend sein wird. Eine Paarbeziehung, wie ich sie nie wollte, das ist auch so ein Versprechen.
Diese Zeit, in der wir leben, ist für uns schon gar nicht so schlecht: zum Beispiel kann ich so einfach diesen Text schreiben und es veröffentlichen und irgendjemand liest ihn. Ich kann noch mehr, Deutschland sei Dank. Und ich habe viele weitere Annehmlichkeiten plus eine ausgesprochen hohe Lebenserwartung. Wir können alle eigentlich ganz schön viel. Aber ich wäre gern nochmal 20 zu einer anderen Zeit. Mit diesem unglaublichen Optimismus, mit diesem unglaublichen Glauben an mich selbst, mit einer gewissen Naivität dieser Gesellschaft gegenüber, mit dieser unbändigen Energie, die ich hatte… Aber umgeben von Männern, die Ehrfurcht zeigen, wenn sie lieben, und die sagen: seht her, hier ist eine Frau, sie kann Leben schenken – und noch so – viel – mehr. Vielleicht wäre ich dann mit dem Titel ‚Frau‘ ok. Und ich wäre gern nochmal 20, aber in der Lage, in der Position, zu lieben, wen ich will und wie ich will.