vonDaria Schweigolz 23.03.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Das wird ein kurzer Text. “Ich habe noch nie Schnee gesehen”, sagt Genevieve in der Serie, die ich eben gefunden habe. Es ist Cyberpunk. Jemand erklärt ihr die Liebe, und eine Drogensüchtige besucht ihre Eltern. “Candy?”. Es sind minus 10 Grad. Als ich klein war, war es regelmäßig so kalt. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, heute mache ich Yoga und stampfe nicht durch den Schnee. Ich habe zwei Bier getrunken. Die Gesundheitsversorgung auf dem Planeten, auf dem es schneit, ist beschissen, schlimmer jedenfalls als das, was ich kenne. In Moskau gab es eine Schießerei in einem Konzert, und ich tue so, als wäre es nicht passiert. Lang lang ist es her, dass ich Russland verließ. Die Nachrichten müssen mich nicht berühren. Wir sind gegangen, ich wollte es damals so sehr. Anderswo, auf anderen Kontinenten, gibt es auch Terroranschläge, die mich nichts angehen und für mich völlig Theorie bleiben. Ich war mir sicher, dass es das System war und dass das Auftakt zu etwas Schlimmerem ist: eine Welle von Verhaftungen oder eigenst inszenierten Anschläge: Wir einer Woche, oder so, drohten Siloviki in einer Aufnahme, die so aussieht, wie wenn Jugendliche CIA spielen, mit Terroranschlägen anlässlich der Wahlen. Siloviki – bewaffnete Gewaltroboter mit einer sehr seltsamen und unangenehmen Aussprache, die eine Art von cool sein soll, die nicht mehr cool ist, – und einem durchaus identifizierbaren psychologischen Profil – wenn jedenfalls Silowiki so tun, als wären sie Opposition, und als planten sie – die Opposition – Anschläge: das ist ein schlechtes, schlechtes Zeichen. Sicher wird Blut fließen, und das reichlich, und würde man in Russland weinen dürfen, das würden auch Angsttränen fließen. Das war vor einigen Tagen, und ich dachte, es wird neue Verhaftungen gehen, und neue unvorstellbare Prüfungen für Menschen mit moralischem Kompass. Aber nein, es ist also ein Massenshooting in Moskau. Ich habe keine Sympathie mit Menschen in Moskau, – das ist nicht moralisch begründet, das schreibe ich nicht, um meine Haltung zu bekunden. Es ist einfach so geworden, meine eigene Vergangenheit in Russland war einfach zu krass, zu belastend. Empathie gibt es nur noch auf Anfrage und Rezept, eigentlich nicht kollektiv. Eventuell hätte ich nicht trinken sollen, wenn ich das einhalten wollte. Aber um meine Empathie geht es ja auch gar nicht, weil sie gar nichts ändert. Ich wünschte, ich würde in einer Welt leben, in der meine Finger am Klavier, die Geschichten die ich mit meinen beiden Händen erzähle, zählen, und in der es zählt, wen ich liebe. Aber so ist die Welt nicht. Ungleichverteilung – da geht es doch nicht um die Waren, es geht um den Raum. In der Serie singt die Frau auf Englisch: “I lost my man and children but I got many friends”. Und was in der Ukraine passiert, wie viele Menschen wieder gestorben sind und was der Kreml wieder kaputt gemacht hat – davon kann ich mich mittlerweile sehr gut abgrenzen. Es läuft auf Deutsch in den Nachrichten und es ist so, als käme es irgendwoher, als könnte ich die Stimmen nicht hören.

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