vonDaria Schweigolz 08.04.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Ich habe mir vorgenommen, diesen Blog zu nutzen, um Menschen eine Plattform zu geben, die wichtige Arbeit leisten und die ich bewundere. Heute: der erste Teil des mehrteiligen Interviews mit Yulia Arnautova. Sie ist seit 2022 Sprecherin einer der wichtigsten Frauenschutz-Organisationen in Russland –  nasiliu.net (Moskau).

Im heute veröffentlichten Teil des Interviews geht es um den persönlichen und politischen Kontext der Frauenarbeit der NGO nasiliu.net.

Eine ca. 35-jährige Frau in einer schwarzen Bluse, mit schulterlangen Haaren. 3/4 Profil, leichtes Lächeln
Yulia Arnautova, Portrait

 

D: Du arbeitest für die NGO ‘Nein zur Gewalt’, im Bereich der häuslichen Gewalt. Wie hat es für Dich begonnen? 

Yulia: Ich denke, ich bin hier dank Anja Riwin gelandet, unserer Gründerin. Ich sah zuerst ein Interview “Er schlägt bedeutet, er schlägt”. Es war ein zweiteiliges Interview, unter anderem mit Betroffenen. Anja konnte das Thema sehr charismatisch rüberbringen.

Aber auch mir ist es nicht fremd, ich habe auch solche Erfahrungen gemacht – im Vergleich zu ihren wirklich furchtbaren Formen war es allerdings eher gemäßigte Art von Gewalt. Außerdem liegt mein Fokus grundsätzlich auf sozialen Themen und ich fand es spannend, wie sich das Land wandelt. Für mich ist das Thema nicht isoliert:

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Gewalt ist generell ein riesiges Problem im Land und häusliche Gewalt ist nur eine ihrer Formen. Entsprechend wundert mich nicht, dass wir als ‘Ausländische Agenten’ eingestuft wurden. 

Dagegen sind Menschen, die das von uns erfahren, dass wir so eingestuft wurden, sehr verwundert: “Ihr helft ja nur den Frauen”. Aber aus meiner Sicht ist es sehr logisch: Wir haben eine sehr hierarchisch strukturierte Gesellschaft, und entsprechend drängt sich ‘das Recht des Stärkeren’ überall auf. Ein weiterer begünstigender Faktor ist natürlich die ökonomische Abhängigkeit von Frauen. Die Politik fördert im Moment solche Abhängigkeiten, wenn es nach ihnen geht, bekommt man mit 18 sein erstes Kind, und mit 30 hat man schon sein viertes zur Welt gebracht. Wir kontrastieren damit. Und das steht einfach im Widerspruch zu dem, was wir senden. 

D: Wäre es ok, wenn Du nochmal etwas über Deinen persönlichen Hintergrund erzählst. Wann hast Du Dich politisiert? 

Yulia: Relativ spät, also erst vor 7 Jahren oder so, mit 27, also eher im reifen Alter. Zuvor war ich eher mit meinem eigenen Privatleben beschäftigt, wie viele Menschen. Vorher habe ich Sprachen gelernt, Sprachen unterrichtet, bin gereist, habe ein Kind geboren und mich scheiden lassen. Auch meine Familie war nicht sonderlich politisch: Mein Vater zum Beispiel schaut die Nachrichten und steht komplett unter dem Einfluss dieser speziellen Agenda, die sie vermitteln. Das hat mich früher nicht interessiert.

Doch irgendwann bekommt man über die digitalen Medien hier und da etwas mit, über diese oder jene Ungerechtigkeit, oder dass irgendwo gelogen oder gefälscht wurde. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, ich hänge hinterher, weil ich gar nicht Bescheid wusste. In jedem halbwegs gebildeten Treffpunkt wird ja vorausgesetzt, dass man in Hinblick auf Politik nicht komplett ahnungslos ist.

Wenn man sich auf diese Reise begibt, ist es so, als ziehe man an einem Faden nach dem anderen, und es kommt immer mehr Erschreckendes zu Tage. 2019 wurde in den Moskauer Stadtrat gewählt. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon ziemlich gut informiert und habe Anschluss gefunden. Was wirklich wichtig ist: Durch das Reisen hatte ich die Gelegenheit, zu vergleichen – ohne solche Vergleiche fallen offensichtliche Probleme oft gar nicht auf. 

In Spanien zum Beispiel habe ich so viele Menschen gesehen, die im Rolli unterwegs sind, und im ersten Moment dachte ich: Wahnsinn, wie krank die Menschen hier sind!

D: Menschen mit Behinderung ‘gibt es’ in Russland nicht.

Yulia: Einer Schülerin von mir ist es gelungen, ein Haus in Spanien zu kaufen. Ihr Sohn hat eine sehr schwere Form von Zerebralparese, und sie erzählte, wie es für die beiden in Russland gewesen ist und was für ein massiver Unterschied das ist: angefangen bei der Infrastruktur, bei den Rampen zum Beispiel bis hin zur gesellschaftlichen Haltung. Hier [in Spanien] kann sie sich entspannt bewegen, niemand zeigt auf sie und ihren Sohn mit dem Finger. In Russland haben Mütter manchmal ihre eigenen Kinder angewiesen, ein paar Schritte wegzugehen, – das wirkt dann so, als ob Zerebralparese ansteckend wäre – ziemlich verrückt also, und das gar nicht aus Boshaftigkeit, sondern schlicht aus Unwissenheit. Die Bildungsarbeit fehlt einfach, sie findet nicht statt. Und das in fast jedem sozialen Bereich. Krankenhäuser sind ein anderes Beispiel: gehst Du rein und denkst, oh Gott, ich muss so schnell es geht viel Geld verdienen, damit ich um sechzig ja nicht dort lande. Und so, zunehmend anhand von Gesprächen, eigenen Erfahrungen und Analysen, hat sich meine Haltung allmählich ausgebildet.

D: Das ist ein wirklich wichtiges Thema. Ich lebe in Deutschland und bin immer wieder erstaunt, wie schlecht Deutschland beim Thema Barrierefreiheit fast überall abschneidet. Aber kommen wir zurück zu eurem Schwerpunkt. Du selbst kommst aus der Linguistik und PR, und bist vor 2 Jahren zum Team ‘Nein zur Gewalt’ dazugestoßen. Und ihr seid eigentlich eine recht junge Organisation. Welche Strukturen habt ihr aufgebaut?

Yulia: Wir vermitteln in Notunterkünfte, aber das ist auf nur drei Wochen ausgelegt. Während dieser Zeit helfen wir, den Antrag für den Aufenthalt im Krisenzentrum zu stellen. Einige Krisenzentren sind wiederum auf Mütter mit Kindern ausgelegt. Aber das ist nicht alles, was wir machen.

D: Was noch?

Yulia: Psychologische Beratung, rechtliche Beratung, Karriereberatung und Coaching, psychologische Beratung für Menschen, die Gewalt ausüben, SOS-Vermittlungsprogramm innerhalb von Moskau, wöchentliche psychologische Selbsthilfegruppen: für Frauen, die häusliche Gewalt überlebt haben (persönlich in Moskau und online in ganz Russland), für Erwachsene, die in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben (persönlich in Moskau und online in ganz Russland); “Eltern OK” (online in ganz Russland); für Angehörige und Betreuer*innen älterer Menschen (online in ganz Russland), Kunsttherapiesitzungen (jeden zweiten Sonntag persönlich in Moskau), Selbstverteidigungskurse für Opfer von Gewalt und Mobbing (1-2 Mal pro Jahr in Moskau) und die Hotline “Alter ohne Gewalt”.

D: Was sind das für Zentren? Wer sind die Träger? 

Yulia: Es gibt staatlich finanzierte, es gibt kirchliche, und es gibt auch privat finanzierte Zentren. Das private Zentrum in Chabarowsk ist zum Beispiel nicht speziell für Betroffene von Gewalt, sondern allgemein für Menschen in schwierigen Lebenslagen. 

D: Kann jede Frau in jedes Zentrum? 

Yulia: Jede Frau kann in irgendeines, aber das Zentrum in Moskau beispielsweise nimmt, glaube ich, nur auf, wenn die Betroffene schon in Moskau gemeldet ist.

D: Ok. Und was bietet ihr noch an?

Yulia: Und wir bieten auch berufliche Beratung, also Coaching an. Eine neue Karriere aufzubauen, nach vielleicht zwei “Mutterschaftsurlauben” ist absolut nicht einfach. Andererseits gibt es durchaus Stellen ohne akademischen Hintergrund.  Wir beraten zum Lebenslauf, zu Bewerbungen, wir suchen nach ökonomischen Nischen: Maniküre, Blini backen, Kleingewerbe, was auch immer. In diesem Bereich haben wir viele Ehrenamtliche, die aber geschult dafür sind, mit den Betroffenen von Gewalt zu arbeiten. Und sie berichten, dass sehr viele Frauen nach der Beziehung, aus der sie kommen, kein Selbstwertgefühl mehr haben. Aber wir haben eine Umfrage unter den Frauen gemacht, die wir eine Zeit lang vorher in Unterkünfte vermittelt haben: und bei ihnen allen hat sich etwas ergeben: Job, Job mit Logie usw. Eine meiner Lieblingsstorys ist: Eine Frau kam mit drei kleinen Söhnen aus dem Süden nach Moskau, aber sie hatte noch ein Grundstück auf Primorje. Und sie ist jetzt Farmerin und führt einen Blog, sie ist sehr glücklich und strahlt geradezu. Aber ihre Geschichte ist doch etwas außergewöhnlich.

D: Aber meistens ist das doch schwerer, oder?

Yulia: Ja, aber die ersten Schritte sind am schwersten. Dann ergeben sich neue Bekanntschaften und neue Möglichkeiten.

D: Sind die Anlaufstellen, Krisenzentren usw. ausgelastet?

Yulia: Das sind sie. Und einige Zentren sind nicht auf Frauen mit Kindern ausgelegt. Und sehr viele Betroffene haben einfach nicht genug Information.

D: Welche Angebote werden abgefragt?

Yulia: Die Terminkalender der Psychologinnen sind sehr dicht belegt, die Rechtsberatung etwas weniger. Wir wissen auch, wieso: Frauen gehen eh nicht davon aus, dass man ihnen rechtlich helfen kann. Tatsächlich gibt es kaum Gesetze, die Betroffene schützen, höchstens gibt es statistische Untersuchungen.

D: Ressourcen fehlen hier also, wie fast überall. Wie sieht es mit der Auslastung aus, könnt ihr alle Anfragen bedienen?

Yulia: Wir haben sehr viel zu tun, aber wir kommen hinterher. Ursprünglich haben wir nur in Moskau gearbeitet, aber seit Juni letzten Jahres arbeiten wir für ganz Russland. Dementsprechend ist auch die Zahl der Anfragen sehr gestiegen, aber wir haben auch das Team aufgestockt.

D: Wie dokumentiert ihr eure Arbeit?

Yulia: Wir dokumentieren alles sehr genau, auch für unsere Spenderinnen, und veröffentlichen monatlich eine Statistik, auch in den sozialen Netzwerken. Es sind ca. 1000 Interaktionen monatlich, aber inklusive der vielen Anrufe. Während der Anrufe stellen wir manchmal fest, dass jemand aus einer Gegend anruft, in der es bereits ein gutes Krisenzentrum oder eine Organisation gibt  – hier können wir also auf ein anderes Angebot verweisen. Sehr häufig fehlt also notwendige Information. Und dann sind da ca. 60 längere juristische Beratungen und ca. 100 psychologische Beratungen monatlich.

D: Wahnsinn, was ihr auf die Beine stellt! Wie finanziert ihr eure Arbeit?

Yulia: Wir finanzieren uns fast zu 100% über Spenden, aber das war nicht immer so. Bevor wir zum ‘ausländischen Agenten’ erklärt wurden, haben wir unterschiedliche Zuschüsse bekommen [gemeint ist: aus den Fördertöpfen der RF aber auch von internationalen Institutionen]: und das war Ergebnis langer Arbeit. Als wir auf die Liste gesetzt wurden, brach unsere Welt zusammen. Wir hatten befürchtet, dass wir überhaupt nicht weitermachen können. Doch die Menschen haben sich mobilisiert und konnten ausreichend viele Spenden – monatliche Spenden – aufbringen. Die meisten Spenden sind zwar private Spenden, aus den Unternehmen kommt nicht so viel. Im Durchschnitt 200, 300, manchmal 500 Rubel [heute 2-5 Euro], über Patreon kommen so ordentliche Spenden von 10 Dollar. Alles zusammen reicht, so können wir die Arbeit weiter tragen.

D: Habt ihr auch Finanzierungsquellen im Ausland

Yulia: Ja, wir nehmen seit Kurzem auch Spenden aus dem Ausland an. Wir haben diesen Schritt lange herausgezögert: aus der Befürchtung, weil wir befürchteten, dass die russischen Behörden uns als eine “unerwünschte” juristische Person einstufen könnten. Das wäre ein viel schwerwiegenderes Stigma ist als der jetzige Status des “ausländischen Agenten”. Die Aktivitäten “unerwünschter” Organisationen zu finanzieren ist eine Straftat nach der aktuellen Gesetzgebung. Wir haben im März 2024 dennoch die beschlossen, Spenden auf ein ausländisches Konto anzunehmen: Alle Gelder auf russischen Konten könnten jederzeit gesperrt werden, in diesem Fall wäre es fast unmöglich, die Ressourcen noch zu retten. Das war und bleibt ein Dilemma.

D: Also ist im Moment ist Crowdfinancing aus den privaten Mitteln eurer Unterstützer*innen in der RF die Hauptquelle?

Yulia: Ja!

D: Kann ‘Nein zur Gewalt’ ihre Mitarbeiter*innen bezahlen?

Yulia: Ja, tatsächlich, und wir sind auch recht zufrieden. Es reicht sogar für ein Büro in Moskau.

D: Noch?

Yulia: So will ich das lieber nicht sehen, wir dürfen der Resignation nicht nachgeben. Im Moment läuft es, darauf kommt es an.

D: Ich weiß, es gibt auch viele, viele Geschichten, Schicksale, die einfach jedes Maß des Erträglichen sprengen. Wie kommt ihr mit der emotionalen Belastung klar?

Yulia: Junge Frauen, die für uns arbeiten – und es sind meistens nur Frauen, weil es immer noch hauptsächlich Frauen sind, die von Männern traumatisiert werden – die arbeiten an vorderster Front. Sie nehmen Anrufe entgegen und führen persönliche Gespräche und gehen regelmäßig zu Intervisionen. Wir haben also ein kontinuierliches Unterstützungssystem. Und wir bestehen sehr darauf, das System ist jederzeit da und die Mitarbeiterinnen ermutigen einander, Überlastungserscheinungen sehr ernst zu nehmen.

D: Wollt ihr prinzipiell auch Finanzierungsquellen im Ausland erschließen?

Yulia: Theoretisch da, aber wir sind eine juristische Person in Russland. Das ist ziemlich riskant und macht uns auch Angst, denn unsere Konten könnten im Moment jeden Moment einfrieren, wenn wir den Status einer nicht-legalen Organisation bekommen. Andererseits gibt es so viele Regelungen, die uns einschränken, dass wir uns wirklich jeden weiteren Schritt sehr genau überlegen müssen.

Fortsetzung folgt


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