vonDaria Schweigolz 09.04.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Ich habe mir vorgenommen, diesen Blog zu nutzen, um Menschen eine Plattform zu geben, die wichtige Arbeit leisten und die ich bewundere. Heute: der zweite Teil des mehrteiligen Interviews mit Yulia Arnautova. Sie ist seit 2022 Sprecherin einer der wichtigsten Frauenschutz-Organisationen in Russland –  nasiliu.net (Moskau). Hier geht es zum Teil I, den ich gestern veröffentlicht habe.

Im heute veröffentlichten Teil II des Interviews geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen, somit auch den rechtlichen Kontext, in dem Frauenschutz-Organisationen in RF arbeiten.

D: Im ersten Teil unseres Interviews hast Du angesprochen, dass sich Frauen seltener an die Rechtsberatung wenden, als an die psychologische Beratung, weil der rechtliche Schutz vor häuslicher Gewalt in Russland kaum vorhanden ist. Lass uns also darüber sprechen. Welche rechtlichen Möglichkeiten haben die Betroffenen trotz der miesen Rechtslage?

Yulia: Ja. Ein riesiges Problem ist, dass es im Gesetz so etwas wie Belästigung und Stalking einfach nicht gibt. Man kann sich hier als Betroffene nicht direkt schützen. Aber es gibt andere elementare Möglichkeiten: das Eigentum, den Täter also für Vandalismus belangen [hier detaillierte Informationen]. Juristische Beratung lohnt sich immer, selbst bei einer schlechten Rechtslage gibt es immer irgendwelche Möglichkeiten: das geschädigte Telefon, das Auto, die Haustür, Veröffentlichung privater Kommunikation. Doch das Wichtigste, das Verbot der physischen Annäherung, das gibt es nicht

D: Gab es das nie oder wurde es erst abgeschafft?

Yulia: In Russland gab es das Näherungsverbot leider nie. Besonders pervers, da Stalking sehr häufig als “Separations-Gewalt” auftritt, also als Reaktion des Täters auf eine Trennung. Er hält seine Freundin für seinen Besitz.

D: Was machen die Betroffenen?

Yulia: Viele kommen nicht umhin, die Stadt zu wechseln. Manche verlassen das Land.

D: Gibt es Zufluchtsorte in Russland?

Yulia: Ja, gibt es, aber absolut nicht genug. Der europäische Standard wäre, so viel ich weiß, ein Schlafplatz auf 10.000 Menschen. Wir haben in Moskau – und hier ist die Situation vergleichsweise gut – gerade mal 11 Zentren auf mehrere Millionen Menschen. Und es gibt in vielen Regionen und Städten keine einzige Krisenstelle.

D: Was sind die Ursachen?

Yulia: Das ist ja offensichtlich. Generell kümmert sich die Regierung herzlich wenig um die Einhaltung der Menschenrechte… Wir haben immer noch eine sehr vertikal ausgerichtete Gesellschaftsstruktur, es braucht immer einen Anführer, und die anderen sollten am Besten ganz den Mund halten.

Es wäre also eher paradox, auf dem Hintergrund des aktuellen politischen Systems Frauen wie gleichwertige Menschen zu behandeln. Aus der staatlichen Perspektive sollen Männer in gewisser Weise eine Zweigstelle des Staates in der Familie sein. Und heute sind ja die traditionellen Werte ja unser Programm. Wer sich 2017 gegen die Dekriminalisierung der häuslichen Gewalt ausgesprochen hat, wurde als westliche Feministinnen und Landesfeinde abgestempelt, die unsere Familien zerstören wollen. Und, naja, es steht auch im Kontext des verzweifelten Versuchs, die Geburtenrate nach oben zu treiben, aber das kann so natürlich nicht funktionieren. 

D: Ich glaube leider, das ist nur eine Frage der Zeit.

Yulia: Vielleicht. Andererseits hatte es immer schon einen extrem hohen Stellenwert, dass die eigenen Kinder Bildung erhalten – auch in den nicht ganz so wohlhabenden oder gebildeten Familien. Und wir haben ja jetzt eine sehr lange Tradition, Mädchen und Jungen gleich gut auszubilden. Ich weiß echt nicht, wer es zum Beispiel glauben soll, wenn es heißt, – wie es letztens war – junge Mädchen brauchen ja gar keine Bildung. Dem Staat käme es gelegen, weil er abhängige Bürgerinnen und Bürger braucht, und eine finanziell schwache junge Mutter ist natürlich weitaus abhängiger als eine exzellent ausgebildete Frau mit ihrer eigenen Karriere.

D: Häufig waren es gerade Frauen in der Politik, die sich für eine regressive Gesetzgebung ausgesprochen haben.

Yulia: Ja, wir haben leider nur systemtreue Frauen im Parlament, die gerade aufgrund ihrer Konformität in diese Positionen gekommen sind. Und dann gab es noch Frauen aus kirchlichlichen Verbänden, die sich für die Legalisierung ausgesprochen haben. Das offensichtlich Paradoxe dabei ist: eine tatsächlich harmonische und gut funktionierende Familie betrifft das Gesetz ja überhaupt nicht, weil es dort ja gar nicht zu Gewaltausbrüchen kommt: von wem geht dann bitte dieser Schaden gegenüber der Familie aus?

D: Wie reagiert die Polizei, wenn sie gerufen wird?

Yulia: Nur in weniger als 50% der Fälle kommt die Polizei überhaupt. Wir hatten [‘wir hatten’ im Sinne von ‘in Russland’] vor einiger Zeit diese furchtbare Geschichte, als eine junge Frau die Polizei rief und die Polizistin am Telefon sagte: “Keine Sorge, wir kommen und nehmen den Leichnam auf” [hier ein Bericht]. Und tatsächlich ist es genauso gekommen. Die Nachbarn rufen sehr häufig die Polizei. Prinzipiell wissen wir ja, dass unsere Polizisten ganz wunderbar Türen eintreten können.

D: Was ist mit Verletzungen, wenn man als Betroffene überlebt hat? Klagt der Staat oder können die Betroffenen klagen?

Yulia: Fast nicht, um ehrlich zu sein, wir sind hier sehr schlecht aufgestellt. Wir haben immer noch kein Gesetz zur Prophylaxe von familiärer und häuslicher Gewalt verabschiedet. Obwohl wir einen wunderbaren Entwurf haben, der ist [oder war] auf Website des Föderationsrates zu finden. Ein wirklich gutes Dokument. Anstatt es zu verabschieden, wurde häusliche Gewalt entkriminalisiert. 

D: Was bedeutet das konkret?

Yulia: Die Situation momentan ist: Wenn sich eine Frau mit leichten oder mittelschweren Verletzungen an die Polizei wendet, gilt die Gewalt beim ersten Mal als Ordnungswidrigkeit. Sie wird mit einer Geldstrafe von 5.000 ₽ bis 30.000 ₽ oder mit bis zu 15 Tagen Haft geahndet. Meist ist es eine Geldstrafe von 5.000. Wenn man sich die Vollstreckung anschaut, werden diese 5.000 faktisch aus dem gemeinsamen Familienbudget bezahlt. Ab dem zweiten “Verstoß”, also beim zweiten gewalttätigen Angriff innerhalb eines Jahres, könnte es dann zu einer Überprüfung und einem Strafverfahren kommen, aber die Anklage ist eine Privatklage. Die Betroffene muss also selbst alle Beweise sammeln.

D: Wie sind die Erfahrungen, die Betroffene machen, wenn sie sich nach den Übergriffen an die Polizei wenden?

Yulia: Wie immer und überall gibt es solche und solche Menschen. Wir hatten letztens erst einen Fall, als eine junge Frau ihre Anzeige zurückziehen wollte, der Polizist sie aber total höflich ermutigt hat, das nicht zu tun. Ja, und das gibt es immer wieder.

Aber häufig ersticken auch Polizisten und Polizistinnen einfach in Bürokratie. Sie sehen, dass die allermeisten Anzeigen zurückgezogen werden, und eigentlich bräuchten sie und auch Mitarbeiter*Innen in Trauma-Punkten eine spezielle Ausbildung, die sie aber nicht haben. Es fehlt wirklich an grundlegendem Wissen. Aber es kann durchaus vorkommen, dass eine Polizistin die betroffene Frau fragt, was denn bei ihr los sei, nach dem Motto “also mein Mann schlägt mich nicht”. 

Auch im Traumazentrum werden Betroffene häufig nicht angemessen behandelt. Und da es sich ja bei der Klage um eine Privatklage handelt, kannst Du sie einfach jederzeit widerrufen.

D: Wieso werden Anzeigen widerrufen?

Yulia: Naja, sehr häufig ist die Aggression Teil eines Zyklus, und nach den Gewaltausbrüchen kommen wieder Flitterwochen, Blumen, Geschenke, Versprechungen, Liebesschwüre. Das ist nicht toll, aber natürlich nachvollziehbar. Der Aggressor ist kein Fremder, da ist eine Bindung, da sind vielleicht gemeinsame Kinder.

D: Wie vielen gelingt der Ausstieg aus der gewalttätigen Beziehungskonstellation?

Yulia: Also: Wir verfolgen den Grundsatz, dass wir nicht hinterher telefonieren und nicht nachfragen. Aber es braucht mehrere Versuche, statistisch – international – gelingt es erst beim siebten Anlauf. Als ich persönlich in der Situation war – und in meinem Fall war es keine extreme Gewalt, – waren es bestimmt 10 Anläufe. Zu uns kommen sehr häufig Frauen, die schon mitten im Trennungsprozess sind – in diesem Fall geht es in der juristischen Beratung oft schon um die Aufteilung des Sorgerechts.

D: Wer ist eigentlich eure Zielgruppe, von welcher Altersspanne sprechen wir? 

Yulia: Wir dürfen niemanden beraten, wenn sie oder er jünger ist als 18, obwohl die Nachfrage natürlich da wäre, Kinder rufen ständig an. Wir verweisen sie an Organisationen, die gezielt mit Kindern arbeiten. Darüber hinaus haben wir keine Fokusgruppe, weil es keine Gruppen gibt, die nicht betroffen wären. Die meisten Frauen, die wir beraten, sind zwischen 20 und 40 Jahren alt, – es ist halt das Alter, in dem sich das Beziehungsleben meist aktiv entwickelt. Aber wir haben auch Betroffene über 50. Hier geht die Gewalt häufig nicht mehr vom Partner, sondern von den erwachsenen Kindern aus. Hier ist die Dunkelziffer ganz besonders hoch, weil ältere Menschen vielleicht oft kein Gadget haben, um uns online herauszusuchen oder es kräftemäßig nicht mehr zu uns schaffen. Und natürlich sind Kinder Betroffene, auch wenn sie nicht selbst Opfer von Gewalt werden. Was sie als indirekt Betroffene durchmachen, ist unglaublich destruktiv. So gesehen sind alle Altersgruppen betroffen.

Fortsetzung folgt. Im nächstes Teil des Interviews sprechen wir dann etwas mehr über den kulturellen und den sozialen Kontext.

 


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