vonFabian Schaar 30.10.2021

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Ein Blog zu Politik, Gesellschaft und dem Dazwischen: Vielleicht ändert sich ja doch noch was?

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Gesellschaftliche Gerechtigkeit ist ein großer, schwerwiegender und wichtiger Begriff, der, je länger mensch darüber nachdenkt, immer undefinierbarer wird – zumindest als Überbegriff. Nicht ohne Grund gibt es viele Unterteilungen und Spielarten von Gerechtigkeit, bezogen auf unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, etwa in Sachen Vermögensverteilung. Gerade dort stehen sich nach meiner Auffassung, zwei Prinzipien fast antagonistisch gegenüber: Die sog. Leistungs- und die Bedarfsgerechtigkeit.

Leistungsgerechtigkeit meint vereinfacht, es sei gerecht, wenn Vermögen nach der „Leistung“ von Personen verteilt ist. Übersetzt: Wer mehr leistet, dem stehe mehr zu. Doch kann diese Form der Gerechtigkeit, dieses Prinzip, einer sozialen Betrachtung überhaupt standhalten? Ist es gesellschaftlich tragbar?

Leistungsgerechtigkeit als Rechtfertigung sozialer Ungleichheit

Die Behauptung, Leistungsgerechtigkeit sei ein Grundpfeiler der Marktwirtschaft als Spielart des Kapitalismus steht nicht erst seit gestern im Raum: Historisch wurde immer wieder versucht, das System der Lohnarbeit und damit einhergehende unterschiedliche Bezahlung von Arbeit zu rechtfertigen – bis heute. Das scheint verständlich, oder? Mir fällt es jedenfalls schwer zu erklären, warum für Arbeit A mehr Lohn gezahlt wird als für Arbeit B, sind es doch beides Formen von Arbeit. Mir fällt es schwer zu erklären warum Frauen im 21. Jahrhundert noch immer weniger Verdienen als Männer, mir fällt es schwer zu erklären, warum über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung der Lohndurchschnitt in den neuen Bundesländern noch immer weit unter dem westdeutschen liegt. Mir fällt es nicht nur schwer, mir scheint es zunehmend unmöglich.

Doch angeblich gilt in Deutschland die „soziale Marktwirtschaft“. Deren Erfinder Alfred Müller-Armack definierte das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit als einen derer Grundpfeiler. Konkret würde das bedeuten: Die, die weniger Lohn erhalten, sind selbst schuld – die leisten weniger. Nun könnte mensch argumentieren, dass es in der Bundesrepublik seit einem knappen dreiviertel Jahrhundert einfach nicht gelungen ist, die Ideen Müller-Armacks in die Realität umzusetzen. Mag sein, doch das Problem sitzt meiner Ansicht nach tiefer: Leistungsgerechtigkeit ist keine Form sozialer Gerechtigkeit, sie rechtfertigt lediglich soziale Ungleichheit.

Schon der Versuch, über Leistung Gerechtigkeit zu definieren, ist zum scheitern verurteilt. Leistung ist ein viel zu ungenauer Begriff. Wird Arbeit als notwendiges Mittel menschlicher Reproduktion verstanden, ergibt individuelle „Leistung“ in einer Gesellschaft keinen Sinn. Eine Gesellschaft beruht auf einem Miteinander, auf Zusammenarbeit von Menschen. Arbeit in dieser Gesellschaft erwächst so zum Mittel der Lebenserhaltung in der Gesellschaft und entfernt sich von der individuellen. Die Erhaltung des durchschnittlichen mitteleuropäischen Lebensstandarts ist nur in einer Gesellschaft als Netz von Individuen haltbar. Verrichtete Arbeit in dieser Gesellschaft sollte also eine Relevanz haben, sie sollte zur Gesellschaft beitragen.

Doch in einem Wirtschaftssystem, indem Menschen ohne Besitz an Produktionsmitteln ihre Arbeitskraft an Vermögende verkaufen müssen, wird dieser Zusammenhang ausgehebelt: Einige wenige verrichten kaum Arbeit, andere schuften sich ab. Das Paradoxe: Die untätigen Vermögenden werden immer reicher, die arbeitende Mehrheit versinkt in immer breiterer Armut. Und dieses System wird gerechtfertigt durch das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit – der Widerspruch ist komplett.

Dieser ökonomische Irrsinn spiegelt sich auch in der Sprache wieder: Unternehmer werden als Leistungsträger bezeichnet, obwohl deren größte Leistung nicht selten eine pralle Erbschaft sein dürfte. Andere, hart arbeitende Menschen, werden auf der anderen Seite inhaltslose Rechtfertigungsphrasen an den Kopf geworfen: Du verdienst weniger. Verdienst, oder übersetzt: Leistung.

Real ist Leistungsgerechtigkeit also nicht, vielmehr die schöner klingende Form von Leistungsungerechtigkeit. Doch auch theoretisch ergibt das Konzept wenig Sinn: Nicht nur das Arbeit Arbeit bleibt, in welcher Form auch immer, Menschen sind und bleiben auch Menschen! Die Begründung von Ungleichheit widerspricht jeder menschlichen Gleichheit: Auch wenn ein Mensch weniger Arbeitet, macht ihn das nicht zu einem schlechteren. Auch weniger „Leistung“ (was auch immer damit gemeint ist), rechtfertigt keine schlechteren Lebensbedingungen. Mensch bleibt Mensch – oder sollte das zumindest.
Die Leistungsgerechtigkeit spricht folglich im schlimmsten Fall Menschen die Menschlichkeit ab.
Und mal am Rande: Auch Arbeitende sind keine besseren Menschen als Arbeitslose. Menschen sind nicht immer selbst schuld, wenn sie keine Arbeit haben. Doch solche anderen Gründe blendet das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aus: Würde Leistungsgerechtigkeit ohne Abstriche eingeführt, müssten etwa Kranke gnadenlos verhungern, erbrächten sie doch keine Leistung. Unter der Leistungs(un)gerechtigkeit wäre etwa jegliche Form solidarischer Finanzierung – etwa bei Krankenkassen – unbegründet, bliebe doch das Erbringen von ach so definierbarer, “individueller” Leistung aus.

Das ist nicht gerecht!

Fazit

Nach diesen Überlegungen scheint mir der Begriff der Leistungsgerechtigkeit mehr wie ein labiles Konstrukt, eines, das schon bei geringfügigem Hinterfragen in sich zusammenbricht. Es wird höchste Zeit sich von einem solchen einsturzgefährdeten Kartenhaus loszusagen, und für tatsächliche Gerechtigkeit einzutreten. Für eine Gerechtigkeit, die die Gleichheit der Menschen als elementaren Bestandteil berücksichtigt. Jeder Mensch ist und bleibt ein Mensch – jeder*m sollte folglich nicht nur gleiche „Startbedingungen“ sondern auch gleiche Lebensbedingungen ermöglicht werden – indem jede*r nach ihren*seinen Bedürfnissen von den gesellschaftlich erwirtschafteten Gütern nehmen darf: Ein, nein, der Grundgedanke der Bedarfsberechtigkeit. Bei dieser stehen nicht die mehr oder minder definierbaren Leistungen von Menschen im Vordergrund, sondern die Menschen selbst. Ja, auch Bedarfsgerechtigkeit ist kein genauer Begriff, kein festes Modell, doch hier geht es um’s Prinzip. Denn eine menschliche Gesellschaft kann nur dann menschlich sein, wenn Menschen auch oberste Maxime sind – und eben nicht die Profitmacherei. Wie genau eine solche Gesellschaft aussehen könnte, gilt es gemeinsam herauszufinden, in Debatte und Diskurs.

Also: Schluss mit Übervorteilung von Reichen und der Verbreiterung von Armut, Schluss mit den Rechtfertigungen eines unmenschlichen Wirtschaftssystems mit angeblicher Gerechtigkeit!


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