vonDetlef Berentzen 01.08.2014

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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In der nüchternen Beamtensprache klingen die Wiener Ereignisse so: „Zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils über die Räumung eines Hauses wurde die Polizei um Assistenzleistung ersucht.“ Diese Assistenzleistung entpuppte sich als Euphemismus für Ausnahmezustand. Einen Tag lang verwandelte die Polizei ein ganzes Stadtviertel in ein Sperrgebiet. 1700 Beamte standen ganzen 19 Hausbesetzern gegenüber. Also rund 90 zu 1. Dazu kamen dann noch Hubschrauber, ein Räumpanzer und ein Platzverbot für Journalisten. Offenbar wollte sich die Polizei bei ihrer Assistenzleistung nicht zusehen lassen. Die massive öffentliche Kritik an diesem absurden Einsatz konterte sie mit – „Gefahreneinschätzung“. Das ist mal echte Maßarbeit. Gut geschätzt. Man hätte mit großer Gegenwehr gerechnet, heißt es. Klar. Immerhin waren die Besetzer Punks. Und dann zur Hälfte auch noch Deutsche. Eine Kombination, die hierzulande jeden Polizisten erschauern lässt – deutsche Punks…. (Isolde Charim/taz)

Aus solchen Sätzen entstehen Korrespondenzen. Da räumen 1700 Uniformierte im Namen von Spekulanten das Haus der Pizzeria „Anarchia“, kein Lummer nirgendwo, ich empöre mich, finde das Ganze echt „spooky“, schicke meinem ziemlich grünen Freund Michael eine Mail mit dem Link zum taz-Kommentar (s.o.) nach Wien, denke noch, vielleicht schreibt er ja wirklich mal retour und plötzlich wird mehr daraus.

nein, lieber detlef, nicht spooky! das ganze ist aus der metternichschen polizeistaatstradition des nie überwundenen habsburgischen spätabsolutismus leicht erklärbar. dieses land hier hat nur zweimal im laufe seiner geschichte kurze phasen der aufklärung erlebt, die beide male von oben verordnet wurden, nach dem ende der jeweiligen herrschschaft wurden die errungenschaften der aufklärung auch jeweils sehr schnell wieder rückgängig gemacht: im 18. jahrhundert war dies die regentschaft kaiser josephs II., im 20. jahrhundert die ära bruno kreisky. geblieben ist ein kleinbürgerlich, nationalistisches milieu, das stark von minderwertigkeitskomplexen, duckmäusertum und niedertracht gekennzeichnet und als wesentlicher bestandteil der hiesigen kultur zu verstehen ist. daher auch die immer wieder deutlich erkennbare neigung breiter teile der bevölkerung zu ochlokratischen bis faschistoiden strukturen. ich bin schon froh, wenn hier niemand gezwungen wird, mit der zahnbürste die straßen zu schrubben. und dennoch bin ich in wien heimisch und freu mich auf deinen besuch. michael.

Oha, lieber Michael, erinnerst du dich noch an meine Wien-Reportagen (für sfb und wiener zeitung), an den (nach eigener Aussage)„arischen“ Fiakerfahrer, an das „Heil Hitler!“ des Trinkers beim Heurigen und die Dame, die am „Denkmal gegen Krieg und Faschismus“ (das mit dem Juden, der von Stacheldraht gehalten auf den Kien die Straße mit der Zahnbürste säubern muss), die genau an diesem Denkmal vom Hridlicka ihren Hund „ausließ“, ihm Erleichterung verschaffte? Oder an die schmuckbehängte Alte im Burgtheater, die mir zu bedenken gab, daß dies ein KuK-Theater sei, das einen Peymann niemals ertragen würde? Anfang der 1990er war das.  Und jetzt? Deine Klage, deine Wut sind nicht verstummt. Kein gutes Zeichen!  Übrigens: sobald jemand mit einer Zahnbürste und sonstigen Angeboten zu dir kommt, melde dich. Ich hol dich da raus! Bis bald und herzlich! d.

 

KorrespondenzWienHP1 - Kopie

danke, für’s angebot mein lieber. zur seelischen befindlichkeit in dieser stadt:  als ich im vergangenen jahr meine photoserie zu den deportationen vom aspangbahnhof gemacht habe, war eine ausstellung im rahmen eines vom österreichischen parlament initiierten veranstaltungprogramms vorgesehen. ich kam als einer der letzten noch ins programm und musste mir einen passenden ausstellungsort suchen. die interessanteste absage kam – natürlich nur telefonisch – von der zentrale der österreichischen lotterien. sie haben ihren unternehmenssitz knapp hundert meter vom gelände des ehemaligen aspangbahnhofs entfernt. sie vermieten säle und haben ein großes foyer. mein vorschlag war, die ausstellung dort im foyer zu zeigen. darauf hin kam der anruf einer freundlichen dame, den ich mal aus meiner erinnerung wiedergebe: großartiges projekt,  wichtig, dass dies thematisiert wird, sie würden das gerne unterstützen. sie haben nur ein problem: im november sind sie immer komplett ausgebucht. und ich sollte verstehen, dass sie vorsichtig sein müssen, wegen der unternehmen, die bei ihnen im november säle für veranstaltungen anmieten. da könnte es doch sein, dass manche von so einer ausstellung im foyer irritiert wären und das nicht goutieren würden. die bilder der ausstellung (futura expulsa) sind noch auf meiner website zusehen und das war der beitrag  vom orf (ö1) dazu. heuer arbeite ich  am zweiten teil der ausstellung, der die arisierungen in der servitengasse (gleich bei der berggasse) thematisiert. gleicher stil, teils dieselben leute. ein jüdischer bekannter von mir bemüht sich derzeit ums freud-museum als ausstellungsort. wäre schön, wenn das was würde. ich halt dich auf dem laufenden. bis bald! m.

No pasaran, Michael, damit dürfen Sie nicht durchkommen. Hast Du was dagegen, wenn ich Auszüge aus unseren Mails (von Punks bis Ausstellung) blogge, samt Link zu Fotos und ORF? Servus d.

danke, mein lieber.
verwende alles, was dir passend erscheint. apropos zahnbürste und hridlicka, hier  noch der text eines postings von der website der „presse“ (ehrenwertes, bürgerliches blatt) aus dem vorigen august, als heftig darüber diskutiert wurde, ob die verlegung einer busspur und die teilweise umwandlung der mariahilferstraße einer „enteignung der autofahrenden bevölkerung“  gleichkomme. das posting fand solide zustimmung, ablehnung nicht und war monatelang auf der website der „presse“ zu lesen:

 

straßenaufwaschen

(„Normalerweise müssten diejenigen, welche Grün gewählt haben, kniend mit Zahnbürste und CiF-Schwammerl die rote Busspur wieder abkratzen“)

…servus. michael.

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https://blogs.taz.de/spurensuche/2014/08/01/wiener-korrespondenzen-anarchia-und-die-folgen/

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