vonDetlef Berentzen 29.11.2014

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Gerade Menschen, die zwischen verschiedenen Disziplinen stehen, also zwischen Psychoanalyse und Geschichte, die sind sehr wichtig. Und ich beziehe von daher auch persönlich meine Identifikation, weil ich denke, nur Geschichte bringt nicht genug, nur Psychoanalyse bringt auch nicht genug, weil das individuelle Therapien bleiben. Also Lloyd deMause und Philippe Ariès und die anderen Forscher, die das Interdisziplinäre betonen, die sind die Zukunftsträger denke ich. (Peter Schulz-Hageleit)

Mit diesem Plädoyer des Berliner Historikers und Geschichtsdidaktikers Peter Schulz-Hageleit ist man wieder mittendrin in der immer noch spannenden Kontroverse über die „Geschichte der Kindheit“ des exakt vor 100 Jahren geborenen Philippe Ariès hat diese Debatte vor Jahrzehnten mit seinem gleichnamigen Buch losgetreten. Als sein Buch im Jahre 1975, aus dem Französischen übersetzt, in Deutschland erschien, provozierte es eine Menge Debatten. Nur wenige Autoren hatten sich bis dahin derart ernsthaft und engagiert mit den Entwicklungslinien der Kindheitsgeschichte und ihrer Dialektik auseinandergesetzt. Was Philippe Ariès da behauptete, war tatsächlich eine Provokation: Die lange Phase der Kindheit als eine bloße Erfindung der Neuzeit, die den Kindern die Freiheit geraubt und sie zum Objekt von Dressur und Erziehung gemacht hat. Damit hat Ariès hochinteressante Diskurse gerade auch mit seinem US-Kollegen Lloyd deMause („Hört ihr die Kinder weinen?“) in Gang gesetzt, die ihm die Siegener Erziehungswissenschaftlerin Imbke Behnken noch heute hoch anrechnet:

Die Kindheit, was wir darunter verstehen, also eine eigene abgetrennte Lebensphase, die auch Eigenständigkeit in Bezug auf Ausbildung, Bildung, eigene Kleidung, eigenes Verständnis hat, die gibt es tatsächlich noch nicht so lange. Und da hat Ariès was ganz Großartiges geleistet.

Die „Geschichte der Kindheit“ von Ariès erschien in Deutschland nur wenige Jahre nach dem Aufbruch der 68er, nach Aufstand, Rebellion und Reformexperimenten auch im Bereich von Schule und Erziehung. Die pädagogische und antipädagogische Avantgarde der Nachkriegsgeneration bestand auf Veränderung. Sie hatte die historische Kontinuität autoritärer Bildungsideale in ihren Familien, aber auch in den Schulen des Landes am eigenen Leib erfahren.

Die Besorgnis der Erwachsenen hat dem Kind die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, daß wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit des Mittelalters zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte. (Philippe Ariès)

Die Folgen autoritärer Konditionierung und Erziehung waren Post-68 ein wichtiges Thema der neuen Eltern- und Lehrergeneration. Was Ariés da schrieb, war zunächst Teil einer umfassenden Antwort auf die Frage, wie der von Moral und Pädagogik besetzte Raum der Kindheit eigentlich genau entstanden war? Was hatte die Kinder seit dem 16. Jahrhundert zum Objekt besessener Erzieher gemacht, ihr Leben an Ideale wie Gehorsam, Disziplin, Zucht und Ordnung gekettet?

Die Fragestellungen des Philippe Ariès und seine Antworten haben im Laufe der letzten Jahrzehnte zwar einige Sichtweisen verändert, aber, sorry, sie bedürfen gerade heute, angesichts des ständig nachlassenden Engagements für die interdisziplinäre Erforschung der Kindheitsgeschichte, einer aktualisierenden Betrachtung. Da ich dem Thema schon lange nachlaufe und nichts lieber möchte, als die Geschichte der Kindheit in ihrer fundamentalen Wirkung auf den jeweiligen Satus Quo von Geschichte sichtbar zu machen, bin ich losgezogen und habe diese Debatte mit meinem Feature „Die Erfindung der Kindheit“ (SWR2) hörbar gemacht. Just listen!

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