„Als wir noch ganz klein waren, wir konnten noch nicht sprechen, und ich erinnere mich ganz genau daran“, erzählte mir mal Fritz Dürrenmatt zu vorgerückter Stunde, „da konnten wir ein kleines bisschen fliegen. Wir stellten uns auf die Fensterbank, winkelten die Arme an, und mit heftigen Flügelschlägen schafften wir es, uns ein bißchen vom Fensterbrett zu heben, ein ganz kleines Stück nach vorne zu fliegen und dann gleich wieder zurück.“ Zweifel anzumelden, zudem bei vorgerückter Stunde, war sinnlos. Und er meldete dann auch meine Zweifel selber an und begann es noch einmal zu erklären, die Technik des frühkindlichen Fliegens noch exakter zu beschreiben, und: „Hie und da gelang es uns sogar, von einem Fensterbrett zum anderen zu fliegen – aber nur ganz knapp, es reichte fast nicht.“ Und ich begann mich zu erinnern, zu meiner Überraschung begann ich mich zu erinnern, wie wir als ganz kleine Kinder, ein kleines, ein ganz kleines bißchen fliegen konnten. (aus: Peter Bichsel, „Doktor Schleyers isabellenfarbene Winterschule“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003)
Wir hatten kaum Bücher zu Hause. Und die wenigen, die da waren, habe ich alle gelesen. Das dickste Buch, das wir hatten, war ein vierundzwanzigbändiges Meyers Konversations-Lexikon. Ich habe erst sehr spät festgestellt, daß es alphabetisch geordnet ist, ich habe es zu Anfang einfach von vorn nach hinten gelesen. Erst als ich dann ein erotisch-sexuelles Interesse bekam, habe ich plötzlich gemerkt, daß man in einem Lexikon Geschlechtsteile und Geschlechtsmerkmale alphabetisch suchen kann. Das männliche Geschlechtsteil hieß übrigens in der Lexikonausgabe von 1890 die „Rute“ – das war mein Kinderbuch. Allerdings habe ich habe auch ein paar klassische Kinderbücher gehabt. Ich war schon früh ein Leser.
Ein Leser zu sein, das hat allerdings Voraussetzungen. Durch die wundervolle Enttabuisierung unserer Zeit sind viele gesellschaftliche Verbote weggefallen, aber ich bin überzeugt, wer nicht Verbotenes liest, wer nie heimlich unter der Bettdecke mit der Taschenlampe gelesen hat, der wird nicht zum Leser. Lesen ist etwas Subversives. Leser sind subversive Leute. Nicht die Schriftsteller sind gefährlich, die Leser sind gefährlich. Die Schriftsteller kann der Staat verbieten, er kann den Druck von Büchern verhindern, aber Leser kann man nicht stoppen. Gegen die hat man kein Mittel, die sind gefährlich. Aber sie sind es nur dann, wenn sie gelernt haben, heimlich zu lesen, verbotenerweise. Wenn der Vater sagt: Um zehn wird das Licht gelöscht!… und um halb zwei liest Du immer noch unter der Bettdecke.
Ansonsten bin ich ein sehr trotziger Mensch, ich kann schon Nein sagen, aber entscheiden kann ich eigentlich nichts. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, nichts zu entscheiden – ich bin ein Fatalist. Ich bin sehr froh, daß ich ein Fatalist bin. Ich habe mich nicht dazu gemacht, es ist einfach mein Temperament. Das ist keine persönliche Leistung, ich habe einfach Glück gehabt. (Peter Bichsel im Gespräch – db)
Peter Bichsel wird heute 80 Jahre alt!
Glück und Wunsch und Leben genug!