Ich war lange allein erziehend mit meiner Tochter, ich habe sehr viel gearbeitet. Sie ist größtenteils bei meinen Eltern aufgewachsen. Und vor zwei Jahren hatte ich das Gefühl, dass sie mir entgleitet… Meine Probleme waren, dass ich ihr alles gekauft habe, ich wollte sie glücklich machen und die ganze Situation ist eskaliert, auch in der Schule. Sie hatte falsche Freunde, sie kam mit der Polizei in Konflikt. Ich denke, ich habe früh genug die Handbremse gezogen und mit MST gearbeitet. (Frau G., Schweiz, Kanton Aargau)
Sie bringt die Debatten in der ziemlich unbeweglichen und doch so wichtigen deutschen Jugendhilfe derzeit in Schwung: Die „Multisystemische Therapie“ , kurz: MST. Entwickelt in den USA für sozial schwer gestörte und delinquente Jugendliche ist sie seit dem Jahre 2007 auch eine Option in der Schweiz. Vor allem in den Kantonen Thurgau, Aargau, auch in Basel-Stadt. Nach Jahrzehnten von Praxis und Evaluierung in Nordamerika ist aus MST ein regelrechtes Markenprodukt geworden, ein extrem mobiles, verbindliches und intervenierendes Verfahren, das in den meisten Bundesstaaten der USA mit großem Erfolg bei sozial schwer gestörten und auch delinquenten Kindern und Jugendlichen im Alter von 12-17 Jahren zum Einsatz kommt. Und das vehement eingreift, b e v o r es zu Heimplatzierungen und Jugendstrafen kommt.
Wir haben immer rumgeschrien, wir haben die Lehrer fertiggemacht: „Wir brauchen Sie nicht! Sie können uns nicht helfen!“, haben mit Sachen rumgeschmissen, andere Kinder geschla…, also einfach genervt, provoziert und hatten auch viele ausgeschlossen, gemobbt. Ich hatte daheim immer noch mehr Streß, noch mehr Druck, weil, ich konnte nicht gut mit meiner Mutter reden, ich wollte ihr die Sachen von mir nicht erzählen, weil sie mich dann immer heftig bestrafte. Und dann bin ich eben ziemlich oft ausgerastet zuhause. ( Tochter M., Schweiz, Kanton Aargau)
Weltweit sind es inzwischen ungefähr 500 lizenzierte Therapeutenteams, die intensivst mit jährlich 23.000 Jugendlichen, aber auch – und gerade das ist besonders – aber auch mit jenen „Systemen“ arbeiten, die den Alltag der Kids bestimmen: Familie, Schule, Freunde, Peer Group, Nachbarn und Gemeinde. Sie alle sind Teil des oftmals schlecht balancierten Systems, das MST „kognitiv-verhaltenstherapeutisch und systemisch-familientherapeutisch“ in positive Bewegung setzt.
Der Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Bruno Rhiner ist begeistert von dem neuen Instrument, das die zuständigen Therapeutenteams der jeweiligen Region zu einer „Taskforce“ werden lässt, die rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche im mobilen Einsatz für die Jugendlichen und ihr Umfeld ist – Fortbildung und Supervison per US-Experten (MST-Sevices Europe) inklusive.
In ihrer Intensität entspricht so eine Therapie durchaus einer stationären Therapie. Was die Familien an therapeutischem Angebot bekommen, das ist sehr intensiv – ein Therapeut hat maximal 4-6 Familien – also einhundert Prozent Therapeut. Die Behandlungsdauer allerdings ist beschränkt, auf 3-5 Monate maximal. In dieser Zeit wird hochintensiv gearbeitet, die Familien haben drei bis viermal in der Woche den Therapeuten bei sich zuhause oder im Umfeld mit Telefonkontakten usw. Das Ganze über die 3 bis 5 Monate hinweg, da gelingt durchaus eine massive Änderung der bisherigen Verhältnisse.
Um Heim- und Knastkarrieren desorientierter und extrem aggressiver Jugendlicher erfolgreich zu verhindern, sind neben Jugendamt, Beratungsterminen, Wohngruppen und Streetworking neue umfassendere, integrierende Maßnahmen nötig. MST verdichtet Kontakte, Beziehungen, Hilfsmaßnahmen, deckt auf, organisiert und hat auch in der Schweiz immensen Erfolg,…den der Thurgauer Bruno Rhiner durchaus belegen kann.
Wir haben Zahlen für ungefähr 300 bis 400 Jugendliche, die wir bis jetzt behandelt haben. Seit 2007 haben wir 6, 12 und 18 Monate nach der Entlassung die drei Kill-Kriterien überprüft: Lebt der Jugendliche weiter in seiner Familie? Ist er integriert in Schule und Ausbildung ? Hat es neue Delikte gegeben? Bei allen drei Kriterien liegen unsere Jugendliche mit über 80% im positiven Bereich.
Die Schweizer Pioniere stehen längst in Kontakt mit freien Trägern der Jugendhilfe in Deutschland. Spätestens Anfang nächsten Jahres soll es erste MST-Teams im Rhein-Main-Gebiet und auch im Raum Heilbronn geben. Vor allen die Evangelische Heimstiftung der Pfalz (Karl Züfle & Co.) und die Diakonische Jugendhilfe (Siegfried Gruhler & Co) geben hier die Avantgarde. Aber auch interessierte Westfalen aus dem Münsterland wurden bereits bei einschlägigen Debatten gesichtet. Man darf also gespannt sein: Der in den Sonntagsreden zur Jugendhilfe gerade in Deutschland so oft beschworene Slogan „Wir werden keines unserer sozial schwierigen Kinder verloren geben“ könnte mit Hilfe der Multisystemischen Therapie zunehmend glaubhafte Realität werden. Ein Anfang nur, aber immerhin, ….meint der Schweizer Teamleiter Rudolf Eigenheer aus dem Kanton Aargau-Ost:
Die Aussage: Keinen verloren geben!, die ist nur so gut wie die Angebote, die es gibt, um alle aufzufangen. Und ich denke, mit der Multisystemischen Therapie ist ein Bindeglied zwischen ambulant und stationär gefunden, da ist ein Auffangnetz, das die Distanz zwischen klassischem Therapiesetting im Büro und der Therapie im stationären Bereich überbrückt. Ich denke, da hat MST den wichtigen Beitrag geleistet, eine Gruppe von Jugendlichen aufzufangen, die von sich aus nicht zur Behandlung kommt oder erst im stationären Rahmen. Und da manchmal nur unter Zwang.
Trotz allem eine Chance und Respekt bekommen. Aber auch Verantwortung übernehmen – für sich und andere. Kinder, Jugendliche, die im Rahmen der „Multisystemischen Therapie“ monatelang im Zentrum vielfältiger Aufmerksamkeit stehen, die plötzlich wichtig werden, gefordert werden, diese Jugendlichen, deren Eltern Hilfe und Beistand aktiv zugelassen haben, diese Kids geben sich nicht mehr ganz so schnell verloren.
Es war auf alle Fälle mächtig spannend und inspirierend, diesem Konzept nachzuspüren, die Begeisterung der (jungen!) Schweizer Therapeuten (und ihrer Klienten!) zu intonieren, deren MST-Task-Force zu begleiten und in den Augen deutscher Jugendhelfer endlich mal wieder Hoffnung funkeln zu sehen. Bin dafür weit gereist, habe viel gelernt und ein neues Hörstück daraus gebaut. Just listen!