vonDetlef Berentzen 27.04.2015

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

Mehr über diesen Blog

Meine Damen und Herren, der folgende Beitrag wurde nach unverbindlichen Richtlinien konstruiert und ist für Ideologen, Spaßbremsen und Konterrevolutionäre unter 80 Jahren nicht geeignet. (db)

 

Wir haben die revolutionäre Tradition und die revolutionären Haltungen dem Prüfstein der historischen Konjunktur unterzogen und versucht, die Tausenden feinen Fäden zu durchtrennen, die den Gulliver der Revolution am Boden zurückhalten. Wir haben tastend gesucht, welche Ausschnitte, welche Gesten, welche Gedankengänge uns erlauben könnten, uns aus der verfahrenen gegenwärtigen Lage zu ziehen.Es gibt keine revolutionäre Bewegung ohne eine Sprache, die in der Lage ist, sowohl die Bedingungen zu benennen, die uns gestellt werden, als auch das Mögliche, das diesen Bedingungen Risse zufügt. Das Vorliegende ist ein Beitrag zur Ausarbeitung dieser Sprache. Zu diesem Zweck erscheint dieser Text gleichzeitig in acht Sprachen auf vier Kontinenten. Wir sind überall, Unzählige; nun gilt es, uns zu organisieren, weltweit. (aus: Unsichtbares Komitee, „An unsere Freunde“, Edition Nautilus, Hamburg 2015)

Auch mit seiner zweiten Pamphletsammlung in Buchform enttäuscht das „Unsichtbare Komitee“ nicht. „An unsere Freunde“ (Nautilus Verlag, April 2015) ist erneut die ideale Lektüre für Potenztölpel und Dorfdeppen. Für wildgewordene Kleinbürger, die jegliche Form der Staatlichkeit als Unterdrückung deuten und sämtliches politisches Weltgeschehen direkt auf sich und ihren Gemüsegarten beziehen. Man müsste über dieses phrasenhafte Dokument aus Frankreich kein Wort verlieren, wäre nicht der Vorgängerband („Der kommende Aufstand“) ein riesiger Verkaufserfolg gewesen. Damals, um die Finanzkrise von 2008, gärte es in Europa. Und auch die ein oder andere verwegene Wildlederjacke des bürgerlichen Feuilletons schloss sich den apokalyptischen Untergangsgesängen auf Demokratie und westlichen Kapitalismus des Unsichtbaren Komitees gerne an („wichtigstes Theoriebuch unserer Zeit“, FAS). Nun, der große Knall blieb aus, und in „An unsere Freunde“ jagen die Autoren weiter den erhofften weltweiten Aufständen hinterher. „Bullen“ sind mit der Zwille zu bekämpfen, ob jemand die demokratische Ordnung oder eine Diktatur schützt, völlig egal. Die Befreiung soll aus Riot und Krieg erwachsen, die Parlamente brennen. „Die Epoche muss im Innersten jeder Situation und im Innersten jedes Einzelnen gesucht werden.“ Ein wahnwitzig esoterisches Ermächtigungsgefasel… (Andreas Fanizadeh, taz)

Lieber Andreas, ich hörte, dass in der Wochenendtaz eine Besprechung des neuen Buchs vom „Unsichtbaren Komitee“ sei und fischte mir das Abo nochmal aus dem Altpapier, und siehe da: Deine Kolummne, die ich gänzlich übersehen hatte.
Offenbar ist Deine Beschäftigung mit den Texten der „Situationistishen Internationale“ und den radikalen Strömungen des „Beginns einer Epoche“ doch schon so lange her und so unter neuen Schichten von Denk- und Lebensweisen verschüttet, dass Du nur noch, wie die Vätergeneration früher, wildgewordene Kleinbürger, Provinztölpel, Dorfdeppen und Esoteriker des eigenen Gemüsegartens erkennst. Wie kennen wir das doch in- und auswendig, diese Vorwürfe, besonders in meiner Generation. Mensch Andreas, so eine Vorwärtsverteidigung der erlangten Besitzstände muss doch nicht sein. Man kann doch die radikale Glut auch in den Ansätzen der jungen Generation wertschätzen und zur Entwicklung kommen lassen. Im Übrigen muss sich niemand einreihen, das war ja genau schon immer das, wogegen sich die „radikale Glut“ mit ihren Maximalforderungen gestellt hat. Das ist ja das „Radikale“ heute wie früher, dass jede Herrschaft in Frage gestellt wird und dass es um die subjektive Ermächtigung als soziales, organisiertes Projekt geht.
Na, wem sag ich das. Für Dich Vergangenheit, für mich Gegenwart, immer noch. Und zwar gelebte.
Bis auf ein andermal! (Hanna Mittelstädt, Edition Nautilus)

 

LöwegaulKunstBürger(1971)

Jetzt ist von den Autoren des „Unsichtbaren Komitees“ ein Nachfolgewerk auf deutsch erschienen. Sprachlich haben die Autoren ein wenig abgerüstet. Sie waren in Tunis, Kairo, Athen, Istanbul unterwegs, überall dort, wo Menschen auf die Straßen gingen, und mussten feststellen: „Die Aufstände sind also gekommen, nicht die Revolution“. Das Recht des Mutigen und Entschlossen, der Kampf als Grundlage des Lebens wird zelebriert: „Der Konflikt ist der Stoff, aus dem ist, was ist.“ Für Demokratisches, Rationales, Intellektuelles bleibt nur Verachtung. Hauptfeind ist in anti-modernistischer Manier „der Westen“, bzw. „der Westler aller Hautfarben“. Und der Feind ist wichtig. Freund und Feind.
Spannende Gedankenansätze, doch auch viel Blumig-Agitatorisches. Zugestanden, es gibt auch immer wieder spannende Gedankenansätze. So stellt das Unsichtbare Komitee fest, die Krise sei für den Kapitalismus keine Herausforderung mehr. Die Krise sei nicht mehr das Schreckgespenst des Kapitalismus. Vielmehr sei die Krise inzwischen eine „politische Methode der Verwaltung der Bevölkerung“, eine Regierungstechnik. Die Krise werde dort konstatiert, wo man etwas marktkonform umzustrukturieren gedenke. Allerdings wird diese Analyse dann in solch rhetorischen Höhen katapultiert, dass man ihr nur wehmütig nachschauen kann; Stichwort: blumig-agitatorisch. (…) Man kann in „An unsere Freunde“ durchaus Entdeckung machen, Anregung finden….anknüpfen kann man nicht, eher sich reiben. (Philipp Schnee, Deutschlandradio Kultur)

Die gegenwärtige Geschichte erinnert an Gestalten aus Trickfilmen, die auf wilder Jagd vor dem Sturz ins Leere plötzlich emporgehoben werden – ihre Vorstellungskraft läßt sie in solcher Höhe fliegen! Doch wenn sie sich dessen bewußt werden, fallen sie sogleich. Das heutige Denken hat aufgehört, kraft seiner eigenen Phantasie zu fliegen. (Raoul Vaneigem: „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/spurensuche/2015/04/27/entwendung-aesthetischer-fertigteile-9/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert