Es regnet ein wenig. Die Bäume unten in der Straße tragen Blattgrün. Neulich saß eine Krähe vor dem Fenster und klopfte mit dem Schnabel an. Ich habe nicht aufgemacht, inzwischen aber Geranien gepflanzt und die Bleistifte gespitzt. Immer noch Bleistifte. Auch Papier. Und mein Radio hat einen runden Knopf, mit dem man die Sender einstellt. Ich weiß, all das ist nicht modern genug.
Gerade spricht ein Moderator Jahrgang 1953 mit Sabine Bode über Kriegskinder und Kriegsenkel und darüber, wieviele noch meinen, daß ihnen all das nicht geschadet hat. All das. Man war ja noch jung damals und zäh wie Leder und ich sehe meinen Vater vor mir, wie er des Nachts am Fenster steht, schweißüberströmt, ohne jeden Atem und schreit: „Ich sterbe!“ Gestopft voll mit Bildern von Krieg, Tod, Vernichtung und Wehrmacht war er nach Haus gekommen. Und jetzt wieder Musik. Im Jugendstil gegenüber öffnet jemand sein Fenster, beugt sich Richtung Kopfsteinpflaster und raucht mit Filter. Eine Horde Schüler lärmt mit ihren Lehrern vorbei zum nahen Theater – Frühvorstellung: „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier!“, haben sie neulich plakatiert. Nichts ist vorbei. Nichts erledigt. Doch das wissen vielleicht nur wenige.
Sabine Bode erzählt gerade vom Schweigen der Alten, wie man es vielleicht bricht und daß es darauf ankommt, in den Familien aufzuräumen, sich die eigenen Geschichten zu erzählen, endlich weinen. Auch über die Geschichten von Flucht und Vertreibung. Lang ist’s her. Und doch nicht. Wieder eine Frau mit Hund. Dann eine mit Kinderwagen und einem großen Mobilphone am Ohr. Immer telefonieren diese mobilen Mütter, mal laut, mal leise, die Kinder im Wagen staunen und wollen später auch mal ein Mobilphone werden und genau soviel Ohr und Aufmerksamkeit bekommen wie das bunte Maschinchen. Das Interview im Radio geht zu Ende. Die Enkel sollen’s richten, höre ich noch, nach ihren Wurzeln und denen der Familie fragen. Sollen Fragen stellen, die vorher niemand und überhaupt.
Mein Vater hat mir, kurz vor seinem Tod, exakt fünf Minuten lang, nur mir erzählt, was ihn, den Sanitäter, all die Jahre schreien ließ – meistens so, dass es niemand hören konnte. Nun ist er schon lange tot. Jetzt die Nachrichten zur vollen Stunde. Überall Gedenken. Im Regal ein Foto (s.o.) von meinem Vater aus den 20er-Jahren. Und auf dem Schreibtisch das frühe Buch vom alten Härtling: „Nachgetragene Liebe“. Was schreibt er da noch, ganz zu Anfang?: „Mein Vater hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann.“ Es gibt solche Geschichten. Immer noch.
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