vonDetlef Berentzen 14.09.2015

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Er war im Dunkeln aus dem Bett gestiegen, ein paar Schritte gegangen und hatte sich verirrt. Er hörte sich atmen und dachte, es ist der Atem eines Kindes. Hilf mir, Peppina, rief er in die schwarze Wand, blieb stehen und horchte. Er müsste das Zimmer doch kennen, in dem er bei jedem Neapel-Aufenthalt logierte. Aber es wies ihn ab. Er wagte keinen Schritt mehr. (Peter Härtling: „Verdi“, KiWi, Köln 2015)

Welchen Zauber löst der Komponist Giuseppe Verdi immer wieder bei Schriftstellern aus? Am bekanntesten ist sicher Franz Werfels „Verdi“-Roman; aber auch Lea Singer hat einen Roman über den Komponisten geschrieben, auch in Krimis von Michael Böckler und Donna Leon spielt Verdis Musik eine wichtige Rolle, und auch die Literaturkritikerin Elke Heidenreich hat ein Verdi-Buch geschrieben. Nun reiht sich Peter Härtling in die Reihe der Verdi-Verehrer ein. Härtling hat bereits mehrfach seine Liebe für die Musik und seine Verehrung für Komponisten wie Schubert und Schumann in literarischen Werken zum Ausdruck gebracht. Dass er, mit über 80 Jahren, eine gewisse Sympathie für den älter werdenden Verdi aufbringt, erklärt er schon im Vorwort. (WDR)

Härtling erzählt seine eigenen Erfahrungen als die des Italieners und begleitet ihn in den letzten 20 Lebensjahren. Nichts war wirklich, wie er es aufgeschrieben hat, aber alles hätte genau so sein können. Erschöpft und zunehmend gleichgültig hat sich Verdi auf sein Landgut in Sant‘ Agata zurückgezogen. Nach seiner „Aida“ will er sich derartige Strapazen nicht mehr antun. Doch mit dem jungen Librettisten Arrigo Boito überkommt Verdi noch einmal die Inspiration. Nacheinander komponiert er seine letzten Opern „Otello“ und „Falstaff“. Gattin Peppina sieht in der Arbeit eine Verlängerung seines Lebens.Liebevoll und mit der ihm eigenen Macht, historische Figuren wieder zum Leben zu erwecken, zeichnet Härtling die letzten Jahre Verdis. Er umspielt wie in einem Musikstück das Thema Alter, haucht dem fremden Charakter durch seine eigenen Empfindungen eine Seele ein. Das Buch ist eine wahre Freude. (Südkurier)

Härtling beginnt diesen „Roman in neun Fantasien“ mit einer Szene, die den schlaftrunkenen Verdi nach seiner Frau Peppina rufen läßt, weil er sich im dunklen Zimmer nicht mehr zurechtfindet. Und auch am Ende, wenn Verdi sterbend in seinem Schlafzimmer liegt, wird die Szenerie von einer Stimmung trauriger Ratlosigkeit dominiert. All dies aber wird aufgehoben in der Begräbnisszene, wenn Toscanini den Trauerzug mit einer Armbewegung weckt und tausende den Gesang der befreiten Hebräer aus „Nabucco“ anstimmen: „Va, pensiero“ – …Flieg, Gedanke, flieg!“ (Rheinische Post)

Anders als Franz Werfel, der einen opulenten, stark faktenorientierten Verdi-Roman in den 1920er Jahren verfasst hat, schlägt Härtling einen leichten, fast beschwingten Erzählton an und begegnet dem alternden Komponisten mit großer Empathie. Vor allem das Individuum hinter dem „Star“ steht im Fokus von Peter Härtling. Geradezu bedrückend schildert er Verdis mit großer Angst selbst registrierte Symptome des Alterungsprozesses, als er sich in einem dunklen Zimmer nicht mehr zurecht findet und er geradezu flehend nach seiner Frau Peppina ruft. Sie führt ihn liebevoll zu seinem Bett zurück und bekundet: „Wir werden älter.“ (lokalkompass.de)

Es ist vor allem der Mensch Verdi, der Härtling interessiert, und sein Altern, die körperlichen Gebrechen, die ihm das Reisen und die Arbeit am Dirigentenpult beschwerlich machen, die Diskrepanz zwischen Arbeiten-wollen und Arbeiten-können und der langsame Abschied von Weggefährten, Orten und Betätigungen. – Wer weiß, wie viel „Härtling“ in Verdi geflossen ist? Härtling ist 82. Seine fließende Sprache mit ihren nahtlosen Übergängen zwischen Gedanken, wörtlicher Rede und Erzähltext wirkt stimmig und liest sich schön, aber schwierig bis man den Rhythmus gefunden hat. Die neun Kapitelüberschriften von „Accelerando a capriccio“ bis „Allegretto mesto“ geben eine Berührung an Thema, Takt und Tempo des Kapitels vor. (buechertreff.de)

Härtling hat einen sanften Erzählfluss gefunden für die Beschreibung der Lebensumstände von Verdis Spätwerk. Ein wenig mag man sich daran stören, dass Verdi bei Härtling im Alter zunehmend von unkundigen, nichtsnutzigen Zeitgenossen umgeben ist, die leider nicht immer tun, was der weise alte Mann möchte und anordnet, aber das ist das Vorrecht des Alters, vieles besser zu wissen, was von den Jüngeren ignoriert wird. (…)So verwandelt sich an etlichen Passagen der Lektüre der Text in Musik, und umgekehrt werden andere Ebenen der Musik durch den Text verständlich. Und man hat einen schönen Roman über Schöpfungskraft im Alter gelesen. (NDR)

 

Peter Härtling im Gespräch
heute abend, 20 Uhr, Stadtbibliothek Stuttgart, Mailänder Platz

Peter Härtling im Kulturcafé des HR (Podcast)

 

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