Die Kunst hat das Theater verlassen und auf der Straße das Leben getroffen. Politiker empören sich über den ihrer Auffassung nach unhaltbaren Zustand, dass politische Parolen und ihre populistischen Subtexte auf und abseits der Bühne zitiert werden. Artaud hätte seine helle Freude an ihrem fadenscheinigen Entsetzen, Breton würde nochmals nachladen, um in die Menge zu schießen. Politisches Theater findet nicht länger in eben diesem statt, n-tv und Phoenix übertragen ab sofort jede Aufführung live – demnächst in ihrem Bundestag. BILD und Bildkopien fahren auf der gleichen Straße und sind auf Kollisionskurs. Die Frage ist nur, mit wem sie bald zusammen knallen. (Christoph Schlingensief: „Aktion 18-Tagebuch“, 2002)
Kein Jaguarbaby wurde getötet. Die Aktionskünstler des „Zentrums für politische Schönheit“ (ZPS) haben auch keine Zwergaffen entführt. Die Ankündigungen vor der Premiere des Stücks „2099“ im Dortmunder Schauspiel waren nur ein Spiel mit den Medien. Ziel war es, den Zynismus aufzuzeigen, dass der bestialische Mord an vielen Syrern hingekommen wird, während Gewalt an Tieren für viele unerträglich zu sein scheint. Der Bluff ist gelungen, das Fernsehen hat berichtet, einige Menschen wollten das Jaguarbaby adoptieren und mit ihrem Leben verteidigen. „Wenn die Syrer Wale wären“, schreibt das Zentrum, sähe ihr Schicksal wohl anders aus. (Deutschlandradio Kultur)
Schon draußen vor dem Theater entlädt sich die apokalyptische Zukunftsvision aus dem Schauspieler Sebastian Kuschmann und lässt den Sekt schlecht schmecken. 600 Millionen Menschen, schreit er, werden bis 2032 an Hunger, Armut und Krieg sterben. Es kommt einem sehr realistisch vor. Und dann geht es ins Theater, jenem Ort der wohlmeinenden – und vielleicht wohlfeilen – humanistischen Wirklichkeitsreflexion. Sphärische Musik erklingt, auf dem Ticker flimmern Schlagzeilen: Günter Jauch ist tot, wieder wurde eine Touristin vom Hai gebissen. Eben das typisch alltägliche Nebeneinander von relevant Weltpolitischem und banal ruhigstellendem Informationschaos. In einem aseptisch weißen Bühnenkasten blecken vier zeitreisende Wissenschaftler aus dem Jahr 2099 in schicken Anzügen und rußgeschwärzten Gesichtern die Zähne zum auffordernden Lächeln. Sie sind gekommen, um die Gegenwart zu retten. (Deutschlandfunk)
Nicht, dass man von einem Kunstaktionsbündnis wie dem ZPS großes Schauspiel erwartet hätte, seine Stärken liegen außerhalb der Guckkastenbühne. Aber ein bisschen mehr von den Zweifeln, Fragen, den zynisch-ironischen Showeffekten und spielfreudigen Bühnenerfindungen eines Christoph Schlingensief, an den nicht wenige Unternehmungen des ZPS erinnern, hätte schon sein dürfen – mal davon abgesehen, dass das Stück mehr ein Pamphlet ist denn ein Drama. (Süddeutsche Zeitung)
Vier Männer also. (War ja klar.) Sie stehen in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte auf dieser Bühne. Sie sehen aus wie die „Men in Black“ aus diesem Hollywoodfilm und sie sollen, laut Skript, angeblich Philosophen sein, aus der Zeit gefallen, denn es sind Zeitreisende aus dem Jahr 2099, und hier wird für einen Moment ein einfacher, schon geübter Gedanke interessant: Diese Männer also kennen die Geschichte. Sie kennen den ersten Holocaust, aber vor allem: Sie kennen auch die vier noch folgenden Holocausts des 21. Jahrhunderts. Und nun stehen sie schreiend und verzweifelt auf der Bühne des Dortmunder Theaters, zeigen Bewegtbilder zerfledderter Leichen, füllen eine Fassbombe mit Nägeln, Phosphor und einem Zünder und versuchen, ihr Versagerpublikum zu impfen. (taz)
Nach der Uraufführung spendete das Premierenpublikum lange Applaus. Aber die Reaktionen waren auch gespalten. Manche empfanden es als beklemmend und verstörend, da man doch nichts dagegen tun könne. Andere waren begeistert, weil auf der Theaterbühne Klartext geredet würde, und sagten, das wünschten sie sich auch von der Politik. (WDR)
Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden. Wir können einen Funken überspringen lassen.Wir können den Spielraum zerstören. Wir können eine Wand niederreißen. Wir können Sie beachten. (Peter Handke: „Publikumsbeschimpfung“, 1966)
Immer wieder gerne! Ein Mann mit dem Mund nicht an einem frisch angezapften Bierfass, sondern vor einem Megaphon – beim „Forum der verlorenen Hoffnungen“.