AfterWar.
Oder: Wie alles anfing.
Nach Berlin. Zum ersten Mal mit dem eigenen Auto.
Ohne die Großmutter, aber nicht ohne Mission.
Fahr bei meiner Schwester vorbei und bestell’ Ihr alles Gute!
Und grüß mir den Willy Brandt, falls Du ihn am Schlachtensee siehst!
Da wohnt der nämlich, wenn er nicht in Bonn ist!
„Weinbrandt-Willy!“ nannte sie ihn immer, weil der Typ eine Zeitlang ganz schön gesoffen hatte, als er noch Regierender Bürgermeister von Westberlin gewesen war. So erzählte es zumindest ihre Schwester, die Großtante, und die wohnte schließlich nicht weit vom Rathaus Schöneberg entfernt. Gleich um die Ecke, am Bayerischen Platz.
Die Oma mochte den Willy, weil er kein Adenauer war und kein Strauß und kein Kiesinger. Und sie hatte vor dem Fernseher in die Hände geklatscht, als der Brandt neulich mit Mehr Demokratie wagen! die Bundestagswahlen gewonnen hatte.
Also würde Hermann den Willy Brandt grüssen. Und den Dutschke auch.
Erstmal aber mußten Hermann und Jürgen mal nach Westberlin kommen. Und vorher über die Grenze. Über die Demarkationslinie. Bei Helmstedt. Das würde gar nicht so einfach werden. Der Vater hatte ihn ernsthaft gewarnt:
Paß bloß auf die Russen auf!
Die kontrollieren da alles!
Flieg doch lieber, wie immer!
Doch sowas durfte man einem wie Hermann nicht sagen, der froh war, endlich einen Führerschein und einen eigenen Käfer mit satten 34 PS zu haben und von der Route 66 träumte. Außerdem war Kumpel Jürgen mit jeder Menge Dope in der Unterhose schon oft über die Transitstrecke gefahren und unversehrt zurückgekommen. Mitsamt Parka und Jesuslatschen. Und hatte sogar die langen Haare behalten dürfen, obwohl es in Hermanns ostwestfälischer Gaskesselheimat Leute gab, die behaupteten, daß die Grepos der DDR kein Pardon mit Gammlern und anderem Gelichter kennen würden.
Die schneiden Dir die Haare ab! Mit rostigen Rasierklingen!
Mit Deiner Beatfrisur schicken die dich gleich in den Knast!
Alles Unsinn, oder?
Doch als Hermann den Last Exit, die Uniformen vom westlichen Grenzschutz und auch die Schilder mit den Warnungen für Transitreisende („Meldet besondere Vorkommnisse!“) hinter sich hat und im vorgeschrieben Kriechtempo auf das Gelände des Ost-Kontrollpunkts Marienborn fährt, wird ihm doch mulmig – Die hohen Wachtürme mit Bewaffneten darin, der Stacheldraht, links und rechts, Maschendrahtzäune zwischen Betonpfeilern, Schlagbäume, geduckte Baracken, in denen sie Straßenbenutzungsgebühren zahlen und ihre Visa beantragen und später abholen müssen. Und überall diese grauen Uniformen, die brrrh-eiskalten Kontrollen der Grenzbeamten. Keine Maschinengegenwehr möglich.
Zackig gaben sich diese Uniformierten. Ganz miese Fressen! Bauten sich ungeheuer wichtig mit gespreizten Beinen neben der Fahrertür auf und winkten Hermann mit einer knappen Bewegung aus dem Auto.
Machen Sie mal Ihren Kofferraum auf!
Nehmen Sie ihr Reserverad da raus!
Öffnen Sie die Motorhaube!
Jetzt mal die hintere Sitzbank hochnehmen!
Handschuhfach öffnen!
Haben Sie Waffen oder sonstige genehmigungspflichtige Gegenstände dabei?
Machen Sie mal das linke Ohr frei!
Mit einem fahrbaren Spiegel kamen sie, kontrollierten den Käfer von unten, rissen die Türverkleidungen ab, schauten dabei gnadenlos wie aus Gewehrläufen und ließen kein lebendiges Wort zwischen sich und die beiden Transitreisenden von der westlich-dekadenten Hippiefront.
Hermann fühlte sich plötzlich interniert. Wie im Knast. Nix Freedom. Wenn die nicht wollten, würde er hier nicht wieder rauskommen. Ein falsches Wort von ihm würde vielleicht schon genügen. Und machte sich kleiner, versuchte freundlich zu sein: Ich bin zum ersten Mal mit ’ner eigenen Karre hier!, kam nicht an. Eisiges Schweigen. Und wurde noch kleiner. Und erst wieder größer, als alles vorbei war, als er den Käfer mit 80 Stundenkilometer durch die tiefen Schlaglöcher der Ostautobahn jagte und Jürgen gehäßig lachte: Alles Nazis, diese Arschlöcher!
Jürgen nickte cool und drehte sich danach eine Zigarette nach der anderen, bis sie endlich den letzten Kontrollpunkt, den letzten miesen Schlagbaum und eben auch das düstere Drewitz hinter sich hatten. Plötzlich war alles Avus. Und beleuchtet.
Fahr erstmal zum Treffpunkt! Oben am KuDamm!
Da warten n’paar Typen auf mich!
Der Treffpunkt war ein Schuppen namens „Park“.
Ein High-sein-Frei-sein-Schuppen kurz hinter Halensee.
Als sie, beide im grünen Kapuzenparka, eingelassen werden, rinnt aus den Lautsprechern gerade der Sound von Pink Floyd.
Careful with he axe!…Und dann dieser Schrei, die Riffs, das trockene Schlagzeug.
Auf der Leinwand, die von der schwer geräucherten Decke hängt, fliegt eine Möwe über ein schäumendes Meer hinauf in den azurblauen Himmel.
An den Wänden hockt jede Menge Woodstock auf dem Boden. Viele rauchen Joints wie Ofenrohre. Manche haben Schlafsäcke dabei und ziemlich glasige Augen im Kopf, schmusen, fummeln oder halten sich seltsam abwesend im Arm.
In der Mitte des riesigen Raums wird getanzt, gezuckt, geschwebt, rumgestanden. Geil, Mann!
Hermann kannte diesen Laden nicht. Er kannte noch keinen dieser Schuppen in Berlin. Wußte nicht, was 69 auf dieser ummauerten Insel angesagt war. Die Großmutter, mit der er früher hergefahren war, hatte andere Ziele gehabt – Den Funkturm, das Café Möhring, das Kaufhaus des Westens, die Siegessäule, die Philarmonie, diverse Friedhöfe und immer wieder das Holzpodest an der Mauer.
Mal wieder nach drüben schauen!
Potsdamer Platz. Todesstreifen, Panzersperren, Grenzpatrouillen mit Schäferhunden, Wachtürme, regungslose Fernglas-Grepos, Ruinen mit zugemauerten Fenstern, ansonsten alles graue Wüste. Vollkommen freies Schußfeld.
Auf dem Podest war die Großmutter immer ganz still geworden und hatte ihre Handtasche so fest gehalten, als würde gleich jemand kommen und sie ihr klauen. Manchmal zitterte sie auch ein wenig.
Verdammter Krieg! Verdammte Nazis!
Du weißt gar nicht, wie schön wir’s mal in Berlin hatten!….
(aus: Detlef Berentzen, „Berlin, Sie – Hermann die zwote“)