Ohje, Michael,
es ist so still um dich geworden!
Bereit zum Auswandern? Aber wohin?
Eigentlich sollten wir uns fürchten, doch dafür bleibt kaum Zeit.
Denn es ist noch nicht vorbei. Und fängt erst an.
Herzlich
db
Mein lieber Detlef,
nein, kein schöner Herbst heuer in Wien. Das Klima ist rauh geworden und das goldene Wienerherz zeigt sich von seiner niederträchtigen Seite. Der dritte Versuch (am 4. Dezember) einen Bundespräsidenten zu wählen, fördert einmal mehr all das zutage, was in den Tiefen der Seelen begraben liegt. Und das ist fürwahr nichts Schönes. Und kein Wunder in der Stadt Sigmund Freuds.
Die Krawallpostillen bringen Tag für Tag Horrornachrichten über vergewaltigende und messerstechende Asylbewerber. Ganz so, als ob man sich in Wien nicht mehr auf die Straße wagen dürfte, die Stadt in Angst erstarrt wäre. Wer nach der Überschrift dann tatsächlich noch weiterliest, stellt mitunter fest, dass die Gruseltaten nicht in Wien, nicht einmal in Österreich passiert sein sollen. Egal. Das lesefaule „Volk“ hat einen Grund, sich zu fürchten. Und die FPÖ kann sich freuen. In Meinungsumfragen liegt sie solide bei 35%. Wenn denn morgen gewählt würde. Wird aber nicht. Daher übernehmen derweil die Regierungsparteien die Drecksarbeit. Jüngste Hervorbringung: Ausländern und Ausländerinnen, die zwar hier arbeiten, deren Kinder aber nicht in Österreich leben, soll die Kinderbeihilfe drastisch gekürzt werden.
Keiner schert sich drum, dass eben diese ausländischen Beschäftigten und Selbständigen durch ihre Steuern und Sozialabgaben brav in den großen Familienbeihilfentopf eingezahlt haben – oft mehr als Einheimische. Hauptsache die Neider und ihre niedrigen Instinkte werden bedient. Über die Folgen macht sich niemand Gedanken.
Beispiel: Das System der häuslichen Pflege in Österreich ist auf die vielen slowakischen, rumänischen und bulgarischen Pflegerinnen angewiesen. Diese arbeiten wochenweise in Österreich und ermöglichen Zigtausenden, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. Die Kinder dieser Pflegerinnen bleiben natürlich daheim in den Herkunftsländern. Wenn die Pflegerinnen demnächst nicht mehr kommen, werden die Österreicher und Österreicherinnen ihre Jobs aufgeben oder reduzieren müssen, um ihre Angehörigen zu pflegen.
Darüber allerdings lesen die Wähler und Wählerinnen der Partei des kleinen Mannes nirgendwo etwas. Auch das Wirtschaftsprogramm ihrer Heilsbringer werden sie wohl kaum kennen. Sollten sie aber vielleicht. Darin steht nämlich, dass die „Kollektivverträge“ abgeschafft werden sollen, also die österreichweiten branchenspezifischen und verbindlichen Lohnvereinbarungen. Statt dessen soll es nur mehr Betriebsvereinbarungen geben. Das heißt soviel Lohn, wie Chef oder Chefin gerade zahlen wollen.
Herbert Kickl, den Chefstrategen der FPÖ, wird der Sparhammer nicht treffen. Er erhält neben seinem monatlichen Abgeordnetengehalt von rund 8.600€ zusätzlich mehr als 10.000€ (!) baus der Parteikassa (also Steuergeld) für seine kommunikativen Fähigkeiten – vor allem seine Dichtkunst („Daham statt Islam“) ist österreichweit bekannt. Sein aktuell wichtigstes Marketingobjekt Norbert Gerwald Hofer gibt uns dieser Tage wieder Einblicke in seine künftige Gestaltung der österreichischen Politik, …falls er denn Präsident werden sollte: Die Regierung wird entlassen, wenn sie Österreich nicht ausreichend abschottet.
Hofer hat auch keine Freude mit Österreichs Sozialsystem. Jedenfalls nicht, wenn Ausländer und Ausländerinnen Mindestsicherung erhalten. Außenpolitisch will er, dass sich Österreich mit einigen der Oststaaten verbündet. „Ungarn, die Tschechische Republik, Rumänien, Serbien, Slowenien, Kroatien, also Länder mit einer ähnlichen Kultur“, stellt er sich für seine Mission als Kombattanten vor, um ein Gegengewicht zu Deutschland und Frankreich zu schaffen: Männerträume im Kleinstaat. Fragt sich nur, ob das Alpenvolk die kulturellen Ähnlichkeiten zwischen der Walachei und den Tiroler Bergtälern erkennen kann und mag. Abgesehen davon erscheinen die Aussichten, in Österreich alsbald Lebensumstände wie in Hofers Sehnsuchtsstaaten vorzufinden, recht bedrohlich, politisch und kulturell sowieso, aber auch wirtschaftlich: Im angeblich verwandten Ungarn liegt das kauftkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt um mehr als 40% unter dem Österreichs.
Warum im Moment auch die Partei Alexander van der Bellens, des liberalen und weltoffenen zweiten Präsidentschaftskandidaten, nicht allzuviel Anlass für hoffnungsvolle Perspektiven gibt, schreibe ich dir in den nächsten Tagen.
Auf bald
M
Illustration: Joern Schlund