vonDetlef Berentzen 14.10.2017

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Lieber Detlef,

ich war heute im Weinviertel, einer idyllischen Landschaft nördlich von Wien. Sanft hügelig zieht sich das Viertel bis zur tschechischen Grenze. Weniger idyllisch allerdings sind die Orte in der näheren Umgebung Wiens. Monotone Reihenhausanlagen werden entweder zuhauf auf unzureichende Grundstücke zwischen alte Häuser gequetscht oder an den Ortsrändern schnell und ertragsoptimierend in die Höhe gezogen. Die Leute ziehen ins Umfeld Wiens in der Annahme, dann im Grünen und zugleich in der Stadt zu sein. Wir alle bezahlen das mit mehr Autoverkehr, der sich hochsubventioniert jeden Morgen nach Wien hinein und abends wieder hinauswälzt. „Pendlerpauschale“ heißt diese Subvention und ist ein absurd hoher steuerlicher Absetzposten für Angestellte, den sich Österreich für die tägliche Blechlawine leistet, anstatt den öffentlichen Nahverkehr auszubauen.

 
Vor ein paar Jahren habe ich einen alten Stadel erworben auf einer kleinen Wiese am Rande eines der Dörfer im Weinviertel. Nur eine halbe Stunde von meinem Wiener Wohnort entfernt. Stadel und Wiese waren recht wohlfeil. In diesem Stadel lagert nun so allerhand, sogar eine uralte Dreschmaschine steht da. Sie war im Preis inbegriffen. Auf dem Weg zu diesem Stadel begleitete mich der aktuelle Wahlkampf: Plakatständer säumen die Dorfstraßen, landwirtschaftliche Anhänger stehen auf den Äckern und tragen die Konterfeis. Zu sehen ist immer derselbe junge Mann – in unterschiedlichen Posen und mit rückwärts gewandter Bildästhetik: Sebastian Kurz (s.Foto) der neue Heilsbringer der alten Volkspartei.

 

In den vergangenen Wochen haben die Medien hierzulande recht breit das sogenannte „Dirty campaigning“ erörtert und kommentiert – erst das der SPÖ und dann auch das der ÖVP. Die Parteiesprecher und -sprecherinnen waren sehr empört, die Medienleute aufgeregt. Das Ganze kam wohl fast allen recht gelegen, denn damit konnten sie sich kurz vor der Wahl bestens über die dramatische Inhaltsleere hinwegschummeln. Inhaltsleere? Ohja!! Von Kurz weiß man, er will „Tun, was richtig ist“ und „Zurück an die Spitze.“ Darum hat die Volkspartei wohl gemeinsam mit den neoliberalen „Neos“ in der letzten Parlamentssitzung dagegen gestimmt, dass die Notstandshilfe künftig ohne Berücksichtigung des Partnereinkommens ausbezahlt wird (Notstandshilfe ist in Österreich das reduzierte Arbeitslosengeld für Langzeitarbeitslose). ÖVP und Neos hätten gern gehabt, dass weiterhin das Einkommen des Partners, die Notstandshilfe reduziert. Warum? Ein Blick in die Statistik hilft. Die Reduzierung der Notstandshilfe betrifft in erster Linie langzeitarbeitslose Frauen. Die sind dann noch stärker von ihrem Mann abhängig. Das will nicht einmal die FPÖ. Somit wurde das Gesetz gestern ohne Zustimmung von ÖVP und Neos beschlossen.

 
Doch wie steht es um die Inhalte der anderen Parteien? Die SPÖ plakatiert ihren Bundeskanzler mit den Schlagworten „Erfahrung“ und „Zukunft“. Erfahrung hat er, keine Frage. Und die Zukunft kommt so oder so. Wie sie aussehen soll, erklärt uns die SPÖ nicht. Braucht sie vielleicht auch nicht. In Radio-Spots erzählt Kanzler Christian Kern, dass es Österreich wirtschaftlich gut gehe und die Leute sozial abgesichert seien. Stimmt sogar. Speziell im direkten Vergleich mit den Deutschen können die Österreicher und Österreicherinnen auf eine solide soziale Absicherung vertrauen. Bei uns gibt es kein Hartz IV, hier sind alle sozialversichert. Für Angestellte wie Selbständige gibt es eine automatische Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung. Die Großstadt Wien bietet rund 500.000 Menschen Sozialwohnungen mit hohem Standard zu sehr raisonablen Kosten. Wer sich auch die geringe Miete nur schwer leisten kann, bekommt Wohnbeihilfe. Vielen allerdings ist nicht ganz klar, wie gut es ihnen in Österreich vergleichsweise geht. Und die SPÖ ist derzeit so orientierungslos, dass sie nicht so recht klarmachen kann, wofür sie wirklich steht. Zwischen dem Weiter-so-es-geht-uns-gut und der martialischen Rhetorik des SPÖ-Verteidigungsministers, der endlich neue Waffen für sein Bundesheer haben will, um die Grenzen besser zu schützen, gibt es viel Interpretationsspielraum – oder besser noch: ein Vakuum.

 
Bei der FPÖ indes braucht man nicht viel zu interpretieren. Deren Inhalte sind klar und einfach. Islam und Ausländer nix gut! Österreicher gut! Das Wirtschaftsprogramm hat ihnen Barbara Kolm vom Hayek-Institut geschrieben. Für eine wie Barbara Kolm ist wahrscheinlich auch die FDP eine neo-marxistische Partei. Allerdings ist die FPÖ in der Umsetzung nicht immer konsequent. Wenn es darum geht, die eigenen Landsleute zu bedienen, darf’s ruhig auch mal Staatsgeld sein.

 

Die Grünen haben sich seit dem Wahlsieg Alexander van der Bellens vornehmlich mit sich selbst beschäftigt und das nicht zu ihrem Besten. Erst haben sie die eigene Jugend versenkt, dann in Wien den Beschluss der Parteibasis ignoriert, um ein viel kritisiertes Spekulationsobjekt in der Innenstadt durch den Gemeinderat zu winken und letztlich noch den populären Aufdecker Peter Pilz und ein paar seiner Freunde von ihren Listen verbannt. Da wird’s bei dieser Wahl wohl nicht zum großen Erfolg reichen.

 


(Bunte „Liste Pilz“)

 

Der genannte Peter Pilz  („Ja, es geht!“) probiert es nun mit einer eigenen bunten „Liste Pilz“ (s. Foto), auf der  höchst politische und eigenwillige Persönlichkeiten kandidieren. Laut Pilz sind die Leute auf der Liste das Programm. Da gibt es zum Beispiel den kritischen Kulturexperten Wolfgang Zinggl, den linken Ökonomen Bruno Rossmann, die umtriebige Feministin Maria Stern oder die hochdekorierte Wissenschafterin Renée Schröder. Gut möglich, dass da genug Stimmen zusammenkommen für einen Einzug ins Parlament. Wünschenswert wäre es allemal, zumal die drei großen Parteien einander mittlerweile fast zum Verwechseln ähneln und dem Land mit der neuen Regierung, egal welche beiden sie bilden werden, eine Mischung aus neoliberaler Austerität und neuer Metternich-Ära bevorsteht.

Wer wissen will, was all das wirtschaftlich heißt, kann sich drei Videos des kritischen urspünglich aus dem katholischen Lager kommenden Ökonom Stephan Schulmeister ansehen.
https://www.youtube.com/watch?v=ObeTfIZ7hRU
https://www.youtube.com/watch?v=Dcq_gMBwMvM
https://www.youtube.com/watch?v=bFzeXrfz0Ek

Für das Verstehen des Metternichstaates empfehle ich die Lektüre von Charles Sealsfields „Österreich, wie es ist“
https://archive.org/details/osterreichwiee00seal

Und zum Schluss, mein Lieber, genehmigen w i r uns ein schönes Glas Grünen Veltliner und hören dazu
Ton, Steine, Scherben: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“
https://www.youtube.com/watch?v=iJ20DL6fKv8

In diesem Sinne
und auf bald
M

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