Berentzen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus“… das ist eine Zeile aus Schuberts „Winterreise“, die das Flüchtlingskind Peter seit seinen frühen Nürtinger Tagen begleitet. Wieviel von dieser Fremde ist eigentlich heute noch spürbar?
Peter Härtling: Als ich meine Erinnerungen für Wolfgang Erk und seinen Radius-Verlag aufschrieb und damit als Achtzigjähriger die Summe meines Lebens zog, da ist mir klar geworden, dass die Nachkriegsjahre, die mich durch ihre Verlogenheit aufgebracht und aufgerüttelt haben, eigentlich die wärmenden Jahre waren, denn damals habe ich mich noch an den Verhältnissen reiben können. Jetzt regiert das Ungefähre, eine ungefähre Politik ohne jedes Programm, ohne jede Lust zu Entwürfen. Der Begriff Utopie wird verhöhnt. Wenn ich die aktuellen politischen Debatten höre, dann werden eigentlich nur Floskeln ausgetauscht und der Austausch von Floskeln macht jemanden, der versucht, mehr als nur Floskeln zu liefern, ärgerlich. Fremd machen mich auch die Geschwindigkeit und die Eile, mit der gehandelt und verhandelt oder auch gedacht wird.
Nach-Denken findet kaum noch statt.
Die Apparate denken für uns, viel schneller als wir denken können. Das Traurige ist, dass die Fremde, wie ich sie begreife, eigentlich bedeutet, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich bin hier zu Hause, wir sind wunderbar zu Hause hier in Walldorf. Ich bin zu Hause in meiner Familie, in einer relativ großen Familie mit vielen Kindern und Kindeskindern. Meine Frau hilft mir, nicht unbedingt fremd zu sein. Aber manchmal überkommt mich das Gefühl, das ich immer als Flüchtlingsjunge hatte: du fängst mit denen da draußen nichts an und die fangen mit dir nichts an. Das ist auch das, was mich manchmal durcheinander bringt. Aber es gibt Menschen, die mir da immer wieder helfen und die sind für mich wie Wärmeinseln – die kann ich schon brauchen.
Man braucht ganz persönliche, private Netzwerke, die Halt und Wärme bieten, damit man in der Jetztzeit bestehen kann, weil das Große und Ganze einfach fremder wird. Der Bloch’sche „Kältestrom“ ist deutlich spürbar.
Ja, das ist schon wahr. Auch diese Fragestellung von Bloch, die zum Schlagwort wurde: Was bedeutet Heimat? Ich habe…
… einst ein ganzes Buch dazu geschrieben, ich erinnere mich….
…Ja. Ich habe, als der Kreis Groß-Gerau mich mit einem Preis ehrte, eine Rede gehalten, in der ich von „Heimaten“ sprach, und daraufhin bekam ich einen erzürnten Brief von einer Frau die mir schrieb: „Heimaten gibt es nicht, Heimat gibt es nur im Singular!“ Ich weiß nicht, ob ich überhaupt geantwortet habe,… doch, ich habe geantwortet. Ich hätte wohl weit ausholen müssen, um zu erklären, was „Heimaten“ bedeutet. Schon als als Kind bin ich mit meinen Eltern von Ort zu Ort gezogen, habe dort jeweils meine Erfahrungen gemacht, das waren immer wieder Heimaten. Heute kann ich nicht sagen: Hessen ist meine Heimat oder Deutschland ist meine Heimat, Deutschland ist auch nicht mein Vaterland, mein Vater ist schon lange tot.
Aber dies hier ist mein Zuhause und dieses Zuhause in Walldorf ist eigentümlich real fassbar, auf wunderbare Weise: Ich habe hier die Renitenz meiner Kinder gegen die Startbahn erlebt, meine eigenen Erfahrungen im Widerstand gegen den Ausbau der Startbahn gemacht, immer gemeinsam mit Bürgern dieses Orts, damals war ich noch unwissend, was sozusagen die genetische Grundlage für die Renitenz dieser Bürger ist. Das sind Waldenser, das sind wie ich Flüchtlinge, die sich widersetzen, dass ihnen das genommen wird, was sie mit Mühe als Zuhause anerkennen konnten, nicht unbedingt als Heimat. Und diese geballte Faust, diesen Widerstand spüre ich heute noch. Und deswegen ist mir dieser Ort, dieses Walldorf, auch durchaus nahe. Das ist ein gutes Zuhause.
Aus einem bislang unveröffentlichten Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Härtling (geb. 13. November 1933, gest. 10 Juli 2017) zum Thema „Letzte Bücher“ .