Drei Winter haben sie damals das Stück gespielt, kalt war’s hier oben auf dem Himmelberg, eiskalt mitunter, weit schweifte der Blick zum Albrand, und alle auf der Flucht, kopfüber in die Fremde gestürzt, Furcht auf die Stirn geschrieben, nur dieser kleine abgeschabte Koffer blieb, der Koffer mit den Papieren vielleicht, doch wohin? Niemand wollte dich hier und noch die letzten Hoffnungen türmten sich zu Trümmern. Dazu dieser weiß gewandete Engel, der von Klee und Benjamin. Und ein Wanderer, Format Schubert: Fremd eingezogen, Tränen zu Eis erstarrt.
Und nun sitze ich, 20 Jahre nach der Premiere, in diesem Bus, hocke da mit anderen Involvierten, vom Theater Lindenhof geht’s wieder hinauf den Himmelberg, die Sonne scheint, man befragt uns nach der Herkunft, der Bus hält irgendwann, verdammt, Kontrolle! „Dich krieg ich noch!“, schreit mir eine uniformierte Fellmütze ins Gesicht und ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn bestanden habe, den Test der „Staatsbürgerschaftsaufrechterhaltungshärtefalldienststelle – Aussenposten Melchingen“.
Bevor wir in den Bus verfrachtet wurden, haben sie uns in der Dienststelle ein Papier vorgelegt, eines mit seltsamen Fragen, z.B. ob das Asylrecht „a) ein Grundrecht, b) eine Schande oder c) überflüssig ist?“ Jede Menge Fragen, auch die, ob man bereit ist, nach „Oppach in Sachsen (46% AfD-Wähler)“ zu ziehen und dort eine „multikulturelle WG“ zu gründen? Ein Bärtiger aus Nowosibirsk beaufsichtigte uns Kandidaten, die wir alle auf viel zu kleinen Stühlen vor geschrumpften Schulbänken hockten und qua Test versuchten deutsche Bürger zu werden – was immer das sein mag.
Das war damals doch alles ein wenig anders. Als Peter Härtlings „Melchinger Winterreise“ im Dezember 1997 uraufgeführt wurde, gab es nur „Im Freien“ und „Auf der Bühne“, keine „Dienststelle“, keine Befragung oder gar ein multikulturell geführtes „Café Transit“. Doch in zwanzig Jahren ist viel passiert und Regisseur Christoph Biermeier wollte, so steht es geschrieben: „Neu erzählen“!, also nicht nur die Fremde des Autors und seines Wanderers in das Stück holen, sondern auch das ganze Jetzt bis zum Mittelmeer – daher auch die Schlauchboote auf dem Melchinger Himmelberg, gezogen von Mohammad und den anderen.
Biermeier hat mit seinem Dramaturgen (Georg Kistner) zu den wunderbaren alten, einige neue Bilder und Texte montiert, neue Rollen mit Flüchtlingen besetzt, die später auf der Bühne oder im „Café Transit“ von sich erzählen, aber auch schon mal aus Schuberts „Winterreise“ (Text: Wilhelm Müller) zitieren: „Ich kann zu meiner Reisen/Nicht wählen mit der Zeit/muss selbst den Weg mir weisen,/ In dieser Dunkelheit.“ Mag sein, Peter Härtling hätte dramaturgisch einen ähnlichen Weg gewiesen, für ihn, das Flüchtlingskind, wurde „die Fremde in unserem Land immer ärger und unerträglicher“, er wollte das Stück entsprechend von eigener Hand aktualisieren, doch da waren die Krankheiten und sein Tod im Juli dieses Jahres. Peter Härtling fehlt. Sehr.
Er konnte also den Satz nicht persönlich aktualisieren, mit dem er damals dem Theater seine „Winterreise“ widmete: „Den Lindenhöflern – dankbar für ein Jahrzehnt voller Träume und Bilder“. Doch jetzt sitzt Peter Härtling, stelle ich mir vor, in seinem langen Mantel neben mir und reibt sich die Hände: „Lass uns reingehen, es ist verdammt kalt hier!“. Als wir auf hartem Holz in der warmen Theaterscheune sitzen, ist (wieder mal) einiges zu lang geraten: wer will sich schon von Schubert qua Monolog Strategien gegen die schlechte Welt erklären lassen? Zum Beispiel. Einfach spielen, den Bildern und der Stille vertrauen! Wie droben auf dem Himmelberg.
Inzwischen sind wir ausgestiegen, ziehen durch den Schnee an einem abgestellten LKW mit erstickten Flüchtlingen vorbei: „Weitergehen, hier gibt’s nichts zu sehen!“, Polizist (Berthold Biesinger) und Zensor treiben uns garstig voran, hinauf zu den Stationen, die Härtling aufschrieb: „Stationen der Erinnerung“, die auch ihn meinen, gerade ihn und seine Mutter Erika, seine Schwester Lore, Scheite lodern in einem rostigen Fass, es ist kalt, bitterkalt, der kleine Peter (Bernhard Hurm) mit der großen Brille friert fürchterlich, kam doch bereits vaterlos in’s Schwabenland, von Nazis, Krieg und Elend fremd gemacht, war schon damals mittendrin in seiner Winterreise.
„Lern frieren. Hier gibt es keine Wärme!“, mahnt ihn auf dem Himmelberg die Mutter, die nach dem Ende der Flucht nicht mehr lange leben wird, sich umbringt, drei Tage lang stirbt, ihre beiden Kinder zur Seite, doch hier oben lebt sie noch, hier ist alles Himmelberg, Schwäbische Alb, ein großes Leuchten über uns und überall am Wegesrand wohl inszenierte Stationen der Fremde: Die Sopranistin Regina Kreis in blauem Kleid auf weißem Grund singt glockenklar Schubert und Müller und immer wieder taucht am Rande dieser beeindruckende Engel der Geschichte (Stefan Hallmayer) auf, dem der Flug nicht gelingt, nicht gelingen kann gegen den Sturm, der vom Paradiese her weht – eine bittere Impression, …du verstummst, bleibst stehen, starrst den Engel an und nichts ist wahrer, dann hörst du es: „Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm!“
All das macht frösteln und treibt weiter, hin zum jungen Schubert – der Träger runder Brillen ist ebenfalls im Schnee unterwegs, suchend, wandernd, immer hat er nach Nähe gesucht, sie meistens nur in der Musik gefunden, Herrjeh, da vorne, ein Klavier!, man musiziert, er singt, kurz nur, und flieht wieder rasch den Ort, da ist kein Bleiben, einsam wird’s. Unter dem weit gespannten Himmel geht’s voran, („Nicht stehen bleiben! Schließen Sie auf!“), dann ein Baum besetzt von schwarzen Krähen und ein paar Schritte weiter steht vereist im Feld Fritz Ruoff (Franz Xaver Ott), Härtlings großer Freund und Förderer. Der Engel bleibt stehen, fordert den einst von den Nazis verfolgten Nürtinger Kommunisten auf, „Reden Sie! Einen Satz für den Weg!“, doch der bitter gewordene Ruoff verkohlt nur weiter mit seinem Gasbrenner die nackten dürrren Stämme, die ihn wie Gitterstäbe umzingeln: „Schwarz ischt a wunderbare Farb. Im Schwarz kann mr au verschwinde!“ Mehr gibt’s von ihm nicht zusagen – ein Maler, kein Schwätzer ist er. Und bleibt zurück. Der Bus wartet,wir steigen ein, beäugt, bewacht, beschimpft von der uniformierten Ordnung.
Retour im Theater. Das „Café Transit“ im Foyer zum Aufwärmen. Wirtin Ida lässt heißen Tee von Flüchtlingen servieren, die das Jetzt in die Zeit bringen, immer wieder von sich erzählen, von Angst, Todesnähe, Fremde, aber auch Lachen, auch. Minuten später sieht man sie auf der Bühne der Theaterscheune wieder, auf der sich Zeiten und Epochen wild und assoziativ durchdringen, ihre Gestalt finden, ob nun die Fremde von Schubert, von Härtling oder Biermeiers Jetzt. Dazu die unglaublichen musikalischen Variationen auf die Winterreise, komponiert von Susanne Hinkelbein. Alles hängt mit allem zusammen, fordert Widerspruch, früh schon, wie ihn einst der junge Härtling formulierte: „Narren sind sich immer gleich und wunderlich und immer reich!“ – erst solche Narren machen uns begreifen.
Die „Stationen der Erinnerung“, die Peter Härtling für seine „Melchinger Winterreise“ aufschrieb, lassen heute mehr denn je die Fremde spüren, die machtvoll herrscht, auch in unserem Land. Härtlings Sätze machen frieren, berühren uns, auch seine Nähe zum Gefährten Schubert, zu dessen einsamen Leiermann, nehmen uns auf wie all die Bilder, die das Theater Lindenhof vor Publikum auf den Himmelberg pflanzte. Unvergesslich. Eine verdammt wundervolle und authentische Kur gegen kalte Gleichgültigkeit und Arroganz!