Er hat sie alle erzählt: Komponisten wie Verdi, Schubert oder Schumann, Dichter wie Mörike oder Hölderlin, gerade Hölderlin: Komm ins Offene Freund! Auch den Hirbel, auch den Ben, die Anna, den Djadi. Sie alle schrieb er auf, ihnen kam er nah, näher oft als all die anderen. Peter Härtling erzählte die Randständigkeit, die Fremde seiner Akteure, eine Fremde, die auch die seine war – er stand voller Empathie auf der Seite der Suchenden, wusste um ihre „frierenden Seelen“. Um eine Welt, die ihren Protagonisten bis heute oft genug den Atem, das Leben, die Freiheit nimmt. Und fror doch selbst.
Schrieb deshalb auch seine eigene Geschichte auf, immer und wieder, die Geschichte des einstigen Flüchtlings- und Waisenkinds Peter , inszenierte dessen „Winterreise“ durch Nazizeit und Afterwar, später dann auch die „Atemlöcher“, in die er zunehmend stürzte. Fand sich immer wieder, auch wenn es eng wurde, wenn der Körper versagte, schrieb er sich rettend auf: Allzu „schonungslos“, wie einst manch junge KritikerInnen murrten. Spätestens seit der „Herzwand“ des Jahres 1990 wissen die geneigten LeserInnen , dass Peter Härtling zunehmend mit Krankheiten umgehen musste, die ihn plagten, ihn forderten und ihm doch auf Dauer nicht Lachen, Wärme und Erzählkunst nehmen konnten.
Gerade Härtlings Gedichte der letzten Jahrzehnte intonierten u.a das Fragile seiner Existenz, seinen Umgang mit Alter und Krankheit, aber auch mit einer Gegenwart, die ihn ständig provozierte: „Die Kriege brechen von Neuem aus,/ ich habe sie nicht vergessen./…Das Kind schreit im Traum, gebettet in Blut und Asche.“ Gleichzeitig belegt seine Lyrik, was ihn – außer dem Atem der Worte – all die Jahre bewahrte: die „ganze große Familie“, die Kinder, die Enkel, die Urenkel, die Freunde, deren Nähe, ihre Liebe, erst recht die Liebe seiner Frau, die ihm ein Leben lang zur Seite stand – sie schrieb er in die Traumwelten seiner alten Tage: „Nichts kann uns aufhalten, keine Grenze, keine Pflicht. Nichts wird uns schwer. Wir wiegen so viel wie die Liebe“.
„Mein Roman wächst sich aus. Ob ich allerdings den Termin halten kann, ist fraglich. Dieser verdammte Dialysenrhythmus ( mal fertig, mal fix) — morgen muss ich wieder hin!“ Diese Notiz schickte mir Peter Härtling im Frühling letzten Jahres – ein paar Monate vor seinem Tod (10. Juli 2017). Da schrieb er noch, immer noch, eben jenes Buch, was gerade eben erschien, posthum: „Der Gedankenspieler“. War noch stark genug für diese letzte große Anstrengung: Findet, erfindet in den Zeiträumen, die ihm zwischen all dem Elend bleiben, die Figur eines anderen kranken Alten, eines Architekten (Johannes Wenger), erzählt ihn, erzählt sich, erzählt ihn, einen Rollstuhlfahrer, krank an Nieren, Lunge und Herz, Stammgast in Krankenhäusern, garstig genug ob all der Einschränkungen, ein altes Kind, durchaus befreundet, bewahrt, unterwegs in Gedanken, in Spielen, in verbrieften Phantasien, nicht ohne erstaunliche Begegnungen und schmerzende Erinnerungen.
Peter Härtling schreibt mit diesem Buch das Kontinuum seiner „Lebenslinien“ fort, treibt sie Richtung Ende, bis kurz vor Schluss, spürt der Gegenwart des alten Wengers nach, auch dessen Schmerzen, der Verlorenheit, der Angst, den „schwefelgelben Träumen“ und „verschwindet“ mit den letzten Zeilen des Buchs „aus meiner, aus unserer Geschichte.“ Und bleibt verschwunden. Aber hinterlässt diesen Roman. Und wird diesmal nicht (wie sonst so oft) auf der Bühne der Berliner Akademie der Künste sitzen, um aus seinem neuesten Buch zu lesen. Das allerletzte Werk von Peter Härtling werden Freunde, SchriftstellerkollegInnen, Verlags- und Akademiemitglieder präsentieren. Gleich morgen. Am Abend.