vonDetlef Berentzen 24.05.2018

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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In der Pariser Bar «Chez Moineau» versammelte sich 1950 eine Gruppe von wütenden Rebellen, die später als „Situationisten“ berüchtigt und als Auslöser der Revolte von 1968 berühmt werden sollten. Während die Existenzialisten auf der Terrasse des «Deux Magots» posierten und in Jazz-Kellern tanzten, kämpften die Situationisten mit Trinkgelagen und Strassen-Aktionen, mit Anschlägen auf Kunstwerke und den Eiffelturm, mit Anti-Filmen und Mauer-Graffitis gegen die Gesellschaft des Spektakels. Das Museum Tinguely zeigt die bislang grösste Ausstellung zur „Situationistischen Internationale“, die am 28. Juli 1957 gegründet wurde. Pünktlich zu ihrem 50. Geburtstag werden 400 Exponate dieser letzten grossen Avantgarde-Bewegung dem Vergessen entrissen. Die Ausstellung führt vor Augen, dass die Situationisten nicht nur Vorläufer von Fluxus, Arte povera und Punk waren, sondern mit ihren architektonischen Utopien, Comic-Collagen, politischen Flyern und Aktionen im Mai 68 eine eigene Ästhetik schufen – auch wenn ihr eigentliches Ziel die „Überwindung der Kunst“ war. Die Situationisten wollten nicht Kunstwerke, sondern neue Situationen schaffen, mitten in der Gesellschaft Verwirrung stiften und aus den Städten «psychogeographische Drehscheiben» machen. So gesehen war ihr grösstes Kunstwerk: Der Pariser Mai 68. (Museum Tinguely: „In Kreisen schweifen wir durch die Nacht und verzehren uns im Feuer“, Basel 2007)

 
Verrückte Poeten, wilde Architekten, irre Träumer, verwegene Maler und radikale Kritiker. Auch hemmungslose Säufer, Narzißten und gespreizte Autoritäten,…deren Chiffren nach wie vor lesbar sind. Als die Situationisten Ende 1966 in Straßburg die Kasse der verschlafenen lokalen Studentengewerkschaft plündern, mit dem Geld eine aufrührerische Broschüre finanzieren, um mit ihr die örtlichen Honorablen und ihre Öffentlichkeit zu provozieren.,….ist auch das tatsächlich eine „politische Botschaft“. Eine Botschaft, die zur Realisierung des einzigen Kunstwerks dienen soll, das jeden routinierten Alltag, jedes manipulierende Spektakel aufheben wird: Die Revolution! Kleiner hatten sie’s nicht. Und spürten schon den Mai, den Aufbruch. Es kommt darauf an, Grenzen und Normen zu überschreiten. Endlich.

 

 

1960 tritt Paris seine Bedeutung an New York ab. Trotzdem ist Paris immer noch eine Stadt, in der etliche Leute leben, die andere Ideen haben als das, was in der bürgerlichen Welt als Lebensziel verkauft wird, das ist keine Frage, sonst würde es den Mai ’68 nicht geben. Und natürlich hat diese Szene, diese Jugendbewegung, natürlich eine Präsenz und in der wird auch die Situationistische Internationale wahrgenommen, weil durch Broschüren wie „Elend im studentischen Milieu“ usw. und auch durch bestimmte Aktionen plötzlich alle Welt auf die Situationisten schaut – und sie nicht zuletzt als das gefährliche Monster eines Geheimdienstes des sich ankündigenden Aufstandes denunziert. (Roberto Ohrt in: „Der Geschmack radikaler Lust“, SWR 2)

 

Nach einer langen Periode lethargischen Schlafs und permanenter Konterrevolution zeichnet sich seit einigen Jahren eine neue Periode der Kritik ab, deren Träger die Jugend zu sein scheint. Die Revolte der Jugend gegen die ihr aufgezwungene Lebensweise ist in Wirklichkeit nur der Vorläufer einer umfassenden Subversion, bei der alle mitwirken werden, die zunehmend die Unmöglichkeit zu leben empfinden, das Vorspiel der nächsten revolutionären Epoche. Die proletarischen Revolutionen werden Feste sein. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieses Festes – Leben ohne tote Zeit und Genuß ohne Hemmungen sind die einzigen Regeln, die es anzuerkennen gilt. (Situationisten: „Über das Elend im Studentenmilieu“)

 

Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören,…Die Sprechchöre bei Aufläufen hören,…Das allmähliche Lautwerden einer Betonmischmaschine nach dem Anschalten des Motors hören…Die Hitparade von Radio Luxemburg anhören…In dem ersten Beatles-Film Ringo Starrs Lächeln ansehen, in dem Augenblick, da er von den anderen gehänselt worden ist, sich an das Schlagzeug setzt und zu trommeln beginnt…(Peter Handke: „Publikumsbeschimpfung“ 1966, „Regeln für Schauspieler“)

 

„Ich brenne Euch das Bild von drei Dimensionen in die Seelen und schleif’ euch durch die Simulation..Eures Lebens…..“ (Kreismal: „Veto“)

 


Ich glaube, unsere ganz konkrete Zielvorstellung ist eine Gesellschaft aufzubauen, die von Arbeiterräten verwaltet wird. Das bedeutet, daß wir Schritt für Schritt alle repressiven Institutionen zerschlagen müssen, um die Herrschaft der Arbeiterräte, Bauernräte und Studentenräte aufbauen zu können….(Cohn-Bendit 1968)

 

Le 403 sont raversé, les greves sauvages sont génerale, …..les forts finis, ce sont brulé, les enragés ou les valles……il est cinque heures …Paris s’eveille…..(Guy Debord/Raoul Vaneigem: „Pour en finir avec le travail“)

 

Da war Daniel Cohn-Bendit dabei, da waren andere Leute dabei, die waren anders organisiert, Anarchisten und so und die Situationisten. Und die Situationisten sind bereit zu sagen: okay, also was macht man zum Beispiel in einem Stadtteil, das war Nanterre, was macht man, um in diesem Stadtteil andere Verhältnisse herzustellen? Man legt sich mit den Autoritäten an, man beginnt die Zuständigkeiten der Autoritäten einzuschränken, man tritt denen auf die Füße, man vertreibt die Bullen vom Campus, man sagt den Professoren, sie sollen den Mund halten: es gibt andere Themen hier zu besprechen usw. Und das ist natürlich vorwiegend eine Konflikttechnik. Die Situation, die dadurch konstruiert wird, ist eine Aufruhr-Situation. Das sind klassische Elemente! (Roberto Ohrt in: „Der Geschmack radikaler Lust“, SWR 2)

 

La plus belle Sculpture c’est le pavé, le lourd pavé cubique, c’est le pavé qu’on jette sur la geule des flics! Die schönste Skulptur ist der Pflasterstein, der schwere kubische Pflasterstein, der Pflasterstein, den man den Bullen in die Fresse wirft…

„Ihr habt nicht zum letzten Mal von uns gehört!“- Die Straßburger Weissagung der Situationisten hatte ihre Berechtigung. Während Rebellion und Aufruhr die Welt bewegen, das Jahr 1968 vielerorts zum Synonym für eine Zeitenwende wird, beteiligen sich Situationisten direkt am Besetzungsrat der Pariser Sorbonne, publizieren nach Eigen-Art Plakate und Manifeste, entwerfen eine lesbare poetische Ästhetik des aktuellen Aufstands, der zumindest in Frankreich zum landesweiten Generalstreik samt Universitäts- und Fabrikbesetzungen wird.

 

Vivre sans temps mort! Jouir sans entraves! Leben ohne tote Zeit! Spielen ohne Grenzen!

 

Studenten, Schüler und Lehrlinge bauen im Tränengasnebel Barrikaden gegen die knüppelschwingende Polizei. Autos brennen, Steine fliegen – aus dem Kampf der Pariser Studenten um politische Rechte und Reformen ist ein Kampf gegen autoritäre und „verkalkte“ Gesellschaftsstrukturen geworden, der auf der Straße ausgetragen wird. Fakultäten werden geschlossen, jede Menge Studenten verhaftet – noch versuchen es die Herrschaften um Präsident de Gaulle und Premier Pompidou auf die knochenharte Tour. Nicht ohne Folgen: Die Gewerkschaften rufen für den 13. Mai zum Generalstreik auf. Betriebe werden besetzt.

 

 

 

In Paris versammelt sich fast eine Million Menschen zur größten Demonstration der französischen Nachkriegsgeschichte: „Zehn Jahre sind genug!“ Es geht gerade und auch gegen das gaullistische Regime – im ganzen Land…selbst die Filmfestspiele in Cannes müssen abgebrochen werden. Millionen sind im Streik . Die Rebellion der 68er verursacht in Frankreich eine Regierungskrise – plötzlich ist von Truppenbewegungen die Rede, Angst vor einem Bürgerkrieg weitet sich aus. Ende Mai verlässt deGaulle seinen Amtsitz, wird kurzfristig im Baden-Badener Hauptquartier gesichtet, kehrt am Abend nach Paris zurück und verkündet, daß er nicht zurücktreten, die Nationalversammlung auflösen, Neuwahlen ausschreiben und das Land qua „Participation“ reformieren wird. Seine Anhänger jubeln. Streiks und Besetzungen indes dauern an. Bis weit in den Juni hinein.

 

Liebe Freundin, die Geschichte ist eine Tragödie, ein fortwährender, großartiger Kampf des Alten mit dem Neuen. Das Alte hat recht, weil es besteht, – das Neue, weil es das dem Alte innewohnende Lebens- und Vernichtungsprinzip ist, …die schöpferische Quelle der Zukunft. Vergessen Sie nie, daß es eine Zeit gab, wo auch das Alte neu und somit ungesetzlich erschien. (Michail Bakunin, Brief aus der Festung Königstein, 16. Januar 1850)

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